Weites Land der Sehnsucht: Australien-Roman (German Edition)
Hamish.«
Hamish tupfte ihm die Stirn mit einem feuchten Tuch ab. Er erinnerte sich an jede Meile, die sie zurückgelegt hatten.
» Ich weiß noch, wie ich zu Mutters Füßen gesessen habe…«
» Spar dir deinen Atem, Junge.« Er wollte nicht, dass der Junge in seinen Augenblicken an das elende Leben in den Highlands dachte. Und doch, dachte er traurig, war er nicht in der Lage gewesen, dieses Leben durch etwas Besseres zu ersetzen, zumindest nicht in Charlies Augen.
» Vater wusste, dass er uns nicht wiedersehen würde«, flüsterte Charlie. » Wie er uns angesehen hat an dem Tag, als wir gegangen sind. Er hat uns nachgesehen, bis wir den zweiten Bach überquert haben.« Seine Stimme bebte. » Glaubst du, Ma und die Kleinen haben uns auch gesehen? Manchmal dachte ich, Ma wäre hier bei uns.«
Hamish nickte. Hier gab es keinen Priester, egal welcher Glaubensrichtung. Der eine Priester war vor zwei Monaten an einer Krankheit gestorben, und der andere war vor ein paar Wochen verschwunden; manche meinten, die Schwarzen hätten ihn getötet. Hektisch suchte Hamish nach einem tröstenden Wort. » Gott segne dich.«
Charlie verzog das Gesicht zu einem halb mitfühlenden, halb bedauernden Lächeln. » Es war nicht nur Marys Schuld, weißt du.«
» Schweig, Junge.«
» Vater hat ihren Kuss erwidert.«
Das war also die Wahrheit.
» Du hast sie so geliebt. Ich wollte, dass dein Bild von ihr unbefleckt bleibt, aber das war falsch von mir. Verzeih ihnen, Hamish.«
Sie hatten ihn beide betrogen.
» Ich wünschte, ich könnte mit dir gehen.« Charlies Stimme war kaum noch zu hören.
Hamish zog seinen kleinen Bruder rau an die Brust. Der Junge verlor das Bewusstsein. Voller Panik versuchte Hamish, ihm mehr von Lees Brühe einzuflößen, aber der Chinamann legte ihm die Hand auf die Schulter, um ihn davon abzuhalten. Schließlich flackerten die Augenlider des Jungen, und er schaute Hamish an. Hamish hielt ihn an sich gedrückt. Seine gelblich schimmernde Haut schien immer kühler zu werden.
» Ich schaue dir zu, Hamish. Ich bin durch deine Träume gegangen und habe sie erlebt. Du musst dein Leben für uns beide leben.«
Als die Nacht am dunkelsten war, tat Charlie seinen letzten Atemzug. Lee stieß einen kaum hörbaren Seufzer aus. Vorsichtig ließ Hamish den Körper seines Bruders wieder auf das Feldbett zurückgleiten. Dann nickte er und überließ den Leichnam dem Chinamann.
Das Grab war tief. Viel tiefer als die anderen Gräber an der nördlichsten Grenze der Goldfelder. Hamish, Lee und Dave, ein Einzelgänger, der sich ihnen angeschlossen hatte, hoben Charlies Leiche über die Grube. Es dämmerte noch nicht einmal.
» Sind wir dann so weit?«, fragte Dave. Er war schon seit seiner Geburt vor etwa fünfundzwanzig Jahren ungeduldig. Er war klein, und ein Bein war ein wenig kürzer als das andere und schmerzte ständig. Sollte er jemals Humor besessen habe, so war er verschwunden, seit man seinen Vater wegen Diebstahl gehängt und seine Mutter in irgendeiner Spelunke im Süden ihr Leben gelassen hatte. Er räusperte sich ein paar Mal. Langsam wurde es hell, und die Feuchtigkeit der Nacht wich. Dave wagte es nicht, sich zu bewegen, aber die Leiche des Jungen wurde immer schwerer und steifer.
Ein paar Meter von ihnen entfernt war eine Herde Wallabys erwacht. Die Tiere begannen scheu, am grünen Gras zu knabbern. Dave beobachtete sie hungrig, und seine Nüstern weiteten sich bei dem Gedanken an frisch gebratenes Fleisch. Das Fett würde er in einer Pfanne auffangen, und dann mit Brot auftunken. Sein Magen knurrte laut und vernehmlich. » Eine unnatürliche Zeit für eine Beerdigung«, knurrte er, als sie die Leiche, die in einen Jutesack gewickelt war, schließlich in die feuchte Erde hinunterließen. Die Wallabys fühlten sich gestört und verzogen sich hinter eine Baumgruppe.
Hamish konzentrierte sich darauf, Erde auf seinen Bruder zu schaufeln, bis schließlich ein kleiner Grabhügel entstanden war. Unten im Lager regten sich die anderen Goldsucher.
» Weit sind wir gereist, und dies…« Hamish wies auf die aufgehende Sonne. » Auf jeden Fall«, wandte er sich an Dave, » hat er jetzt einen neuen Tag miterlebt.«
Lee berührte seinen Arm. » Er guter Mann.«
» Ja«, sagte Hamish. Charlie war ihm aus Treue bis ans andere Ende der Welt gefolgt. Und aus Liebe hatte er Marys Verrat für sich behalten.
Dave wich schweigend zurück und stellte sich neben Lee, der gerade duftende Kräuter als Opfer verbrannt
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