Weites Land der Träume
von Kilometern entfernt lebten. Beas Großzügigkeit war häufig der Anlass für Streit zwischen ihr und Ray, und so wunderte sie sich sehr, dass sie kaum auf Widerstand stieß, als sie vorschlug, Thomas und seine beiden Kinder könnten doch bei ihnen wohnen.
»Die armen Kleinen, Alice und Ben. Wie werden sie je darüber hinwegkommen, dass sie auf so tragische Weise ihre Mutter und ihren Bruder verloren haben? Ich wage gar nicht, daran zu denken.« Bea schüttelte den Kopf. »Ich habe Mary Ellen nicht gut gekannt, aber sie hat Tommy glücklich gemacht. Es ist doch das Mindeste, dass wir ihnen ein Dach über dem Kopf anbieten, bis Tommy wieder auf eigenen Füßen steht.« Sie drückte Ray die Hand. »Dann wird unsere Familie eben wieder so groß sein wie früher, bevor die Jungen nach Wangianna gezogen sind.«
Onkel Ray wandte den Blick ab und räusperte sich. Auch ihm war der Schreck in die Glieder gefahren, als er von der Katastrophe erfahren hatte, und er hatte seine eigene Familie wieder schätzen gelernt. Dennoch war ihm nicht wohl bei dem Gedanken. Seiner Ansicht nach hatte Thomas sich immer viel zu sehr auf Bea verlassen. Allerdings fiel es Ray schwer, seiner Frau etwas abzuschlagen, wenn sie es sich einmal in den Kopf gesetzt hatte.
Also wurde beschlossen, dass Thomas, Alice und Ben bei den Downings einziehen sollten, und Tante Bea begann, sich mit den praktischen Einzelheiten zu befassen.
An einem sonnigen Märznachmittag um halb fünf bog Thomas müde in die Hauptstraße von Billabrin ein. Die Fahrt hatte eine Woche gedauert. Alice spähte aus dem Fenster, plauderte mit Ben und ermunterte ihn, nach dem Laden ihres Onkels Ausschau zu halten. Der Verlust ihrer Mutter hatte Alice viel tiefer getroffen, als sie es sich anmerken ließ. Da sie die Veränderung an ihrem Vater bemerkte, hatte sie ihr eigenes Elend verdrängt und versucht, Ben die Mutter zu ersetzen. Seit dem schrecklichen Tag war ihr sonst so aufgeweckter Bruder schweigsam und in sich gekehrt. Während der gesamten Fahrt von Victoria nach Neusüdwales hatte er kaum mehr als fünf Wörter von sich gegeben. Nun versuchte sie ihn aufzuheitern. Die Neugier trug das Ihre dazu bei, denn die beiden Kinder waren ihrer Tante und ihrem Onkel nie begegnet. Allerdings hatte ihr Vater oft liebevoll über Bea gesprochen und sie gewarnt, ihren Onkel bloß nicht zu verärgern. Als der Wagen langsamer wurde, drückten Alice und Ben sich die Nasen an der Fensterscheibe platt.
»Tja, das wird es wohl sein!«, verkündete Thomas und brachte den Wagen knirschend vor einem kleinen, schäbigen Holzhaus mit rotem Blechdach zum Stehen. Oben waren noch in verwitterten Buchstaben die Worte »R.K. Downing und Söhne 1892« zu lesen.
»Ich hab es zuerst gesehen, ich hab es zuerst gesehen!«, jubelte Ben.
Nachdem Thomas die Handbremse gezogen hatte, stiegen alle aus. Alice ergriff Bens Hand. Während sie auf das abgestoßene Holzschild mit der abblätternden Farbe starrte, fragte sie sich, wie es wohl werden würde, mit ihren Cousins zusammenzuleben.
»Wir sind da!«, rief sie und versetzte Ben einen aufgeregten Rippenstoß. »Gibt es hier Pferde, auf denen wir reiten können, Daddy?« Alice hatte auf dem Pferd der Nachbarn reiten gelernt, als sie vier war, und Thomas hatte ihr versprochen, ihr eines Tages ein eigenes Pferd zu schenken.
»Ich weiß nicht, Prinzessin.«
»Ich habe Hunger«, jammerte Ben.
»Ich bin viel zu aufgeregt, um Hunger zu haben«, erwiderte Alice lachend. Alles war so neu, dass sie ihre Trauer kurz vergaß. Ben ließ sich von ihrer Begeisterung anstecken, und die beiden Kinder hüpften den kleinen Pfad entlang, der am Laden vorbei und durch das Tor führte.
An den Haushaltswarenladen der Downings war ein kleines Haus mit drei Zimmern angebaut, das eine teilweise mit Fliegengittern versehene Veranda besaß.
Hinter dem winzigen, aber erstaunlich gepflegten Garten befanden sich drei große Koppeln. Die erste beherbergte zwei Ziegenpferche, die zweite war leer, und auf der dritten tummelten sich ein paar Zicklein, und dann gab es noch einen Schweinekoben und einige verfallene Wellblechhütten zu sehen. Alice jubelte vor Freude, als sie die erwachsenen Ziegen bemerkte, die geduldig vor dem Pferch der Zicklein warteten.
»Glaubst du, Tante Bea erlaubt mir, dabei zu helfen, sie zu versorgen?«, fragte sie atemlos. Traurig erinnerte sie sich an den kleinen Matty, den sie bei einem freundlichen Nachbarn zurückgelassen hatten.
»Das werden wir bald
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