Weites Land der Träume
der Dunkelheit klangen fremdartige Geräusche, und Katie wälzte sich, wild um sich tretend, hin und her. Immer wenn Alice sie ansah, waren ihre Augen fest geschlossen, und ihr Atem ging regelmäßig. Am nächsten Morgen war Alice wegen der nächtlichen Strampelei von blauen Flecken übersät. Aber sie ließ sich die Zuversicht nicht nehmen, als sie auf Anweisung ihrer Tante mit Katie in die Küche ging, um die Eimer zum Ziegenmelken zu holen.
»Sie mögen keine Fremden«, zischte Katie gehässig, während sie in die Morgensonne hinaustraten.
Als sie durch das Tor schlüpften, das den Garten von der Koppel trennte, bekam Alice den Eimer gegen das Schienbein, entschied jedoch, an einen Zufall zu glauben. Sie warf ihre langen schwarzen Zöpfe zurück, blinzelte kräftig, um die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen, und war fest entschlossen, sich von nichts den Morgen verderben zu lassen. Zum Glück war die ganze Familie heute besonders früh aufgestanden, um die neuen Cousins zu begleiten, weshalb Katie keine Gelegenheit zu weiteren Boshaftigkeiten bekam. Wenn Tante Bea dabei war, verhielt sich Katie stets freundlich und hilfsbereit. Sie zeigte Alice, wie man die Ziegen in das hölzerne Gestell einspannte, das Onkel Ray gebaut hatte und das ihren Kopf zwischen zwei Latten festhielt, damit sie gemolken werden konnten. Dann erklärte sie ihr, wie man das Bein der Ziege mit einem Seil festband, damit das Tier nicht austrat und den Eimer mit der Milch umwarf.
Liebevoll sah Tante Bea zu, wie ihre Tochter eine Melkstunde gab, und mischte sich nur ein, weil sich das Seil lockerte und die Ziege sich sträubte und um sich trat. Freudig lachte Alice auf, als die drei anderen struppigen Tiere auf der Suche nach etwas Essbarem an ihrem Rock knabberten. Sanft streichelte sie ihre rauen Rücken und verliebte sich auf Anhieb in die kleinste der Ziegen, die sie aus wehmütigen braunen Augen ansah und sie spielerisch anstupste.
Als Alice mit dem Melken an der Reihe war, ließ sich die Ziege geduldig festbinden und rührte sich nur, um durch ein Zucken ihres verkrüppelten Ohrs die Fliegen zu verscheuchen. Hass und Neid malten sich in Katies Gesicht.
»Du bist ja ein Naturtalent«, rief Tante Bea aus. Alice erwiderte ihr Lächeln und errötete stolz. Aus blauen Augen warf sie einen kurzen Blick auf Katie und hoffte, dass die schlechte Laune ihrer Cousine nicht von Dauer sein würde. Wie gerne wäre sie nach Hause gelaufen, um alles ihrer Mutter zu erzählen. Dann wurden die Ziegen wieder freigelassen, und Tante Bea scheuchte Buddy, Ben und die Zwillinge rasch aus dem Zickleinpferch.
»Wenn wir uns nicht beeilen, haben wir keine Zeit mehr zum Frühstücken«, verkündete sie nach einem raschen Blick auf die Uhr.
Als die Zwillinge mit rudernden Armen an Ben vorbeistürmten, bekam dieser versehentlich einen Schlag auf den Hinterkopf ab. Er brach in Tränen aus, worauf er sich ein lautes »Heulsuse!« gefallen lassen musste. Das wiederum brachte den beiden Übeltätern eine Gardinenpredigt von Tante Bea ein, und sie rannten über die Koppel davon.
Besorgt legte Alice den Arm um Ben. »Mach dir keine Gedanken über sie. Das war keine Absicht«, flüsterte sie. Dankbar sah Ben seine Schwester an und wischte sich die Tränen ab. Dann folgten sie den anderen ins Haus.
Nach dem Frühstück lud Tante Bea die Kinder in ihr verbeultes altes Auto und fuhr sie in die winzige Dorfschule, wo alle Klassen gemeinsam unterrichtet wurden. Alices Herz klopfte ängstlich, als sie neben Tante Bea den kleinen Schulhof überquerte. Er bestand aus fest gestampfter Erde, aus der hie und da ein trockenes Grasbüschel ragte. Einige Gummibäume spendeten spärlichen Schatten. Ben umklammerte ihre Hand so fest, dass es wehtat, doch sie empfand seinen Griff als beruhigend. Als die Schulglocke läutete, packte Katie, die widerstrebend in einigem Abstand gefolgt war, Buddy bei der Hand und lief mit ihm zu den anderen Kindern hinüber, die in das einzige Klassenzimmer strömten. Die Zwillinge waren längst verschwunden. Während Alice und Ben die restliche Strecke zurücklegten, erschien die Lehrerin in der Tür. Tante Bea küsste die Kinder rasch, tätschelte sie aufmunternd und ging davon.
In dem überfüllten Raum herrschte ein vertrauter Geruch nach Schweiß und alten Schuhen. Alice wurde mulmig zumute. Drinnen saßen etwa zwanzig Kinder im Alter zwischen fünf und zwölf Jahren eng gedrängt beieinander. Katie hatte bereits ihren Platz eingenommen und
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