Weites Land der Träume
vertrauensvollen Gesichter betrachtete, mit den vom Weinen rot geränderten Augen, die so unendlich müde wirkten, hatte er plötzlich eine Idee.
»Hört mal zu«, antwortete er, während er sie an sich zog. Thomas hatte einen Kloß im Hals, als er zu sprechen begann. In der abendlichen Stille war nur seine Stimme zu hören.
»Ich liebe euch beide sehr, und ich habe auch Mummy und Timmy sehr geliebt. Aber jetzt sind sie in einer besseren Welt, wo sie sicher und glücklich sind und wo ihnen nichts mehr passieren kann.« Er hielt inne, um sich wieder zu fassen, und wagte kaum, seinen Kindern ins Gesicht zu sehen. »Ich werde euch auch an einen sicheren Ort bringen.«
Er hob den Kopf und blickte über sie hinweg in die Ferne. Tränen traten ihm in die Augen, während er seinen Erinnerungen nachhing.
»Als kleiner Junge bin ich mit meiner großen Schwester Bea über die Ebenen geritten, die mit schwarzer Erde bedeckt waren. Der Wind wehte uns ins Gesicht, peitschte die Mähnen unserer Pferde und machte die Tiere nervös. Oft stürmte es so heftig, dass selbst die Vögel am Himmel kaum von der Stelle kamen. Ich fragte mich oft, wie sie es überhaupt schafften zu fliegen. Bea fand es genauso erstaunlich. Meine alte Großmutter sagte immer, es wäre ein Wunder. ›Tommy, mein Junge‹, meinte sie. ›Schau dich um. Sei froh, dass du am Leben bist. Das hier ist ein ganz besonderer Ort.‹ Dann beugte sie sich ganz ernst vor und fügte hinzu: ›Ich kenne sonst nämlich keine Gegend auf der Welt, wo die Krähen rückwärts fliegen.‹«
Alices Augen in dem herzförmigen Gesicht weiteten sich vor Erstaunen, als sie sich ausmalte, was ihr Vater soeben erzählt hatte. Seine verheißungsvollen Geschichten hatten sie schon immer verzaubert, so auch jetzt, wo sie dringend Trost brauchte.
»Ich habe schon mal eine Krähe rückwärts fliegen gesehen«, beteuerte Ben.
Thomas lachte auf, und in seinem Herzen regte sich ein kleiner Hoffnungsschimmer.
»Kommen wir wieder hierher zurück, Dad?«, fragte Alice wehmütig.
Sanft strich Thomas mit der Fingerspitze über ihr trauriges müdes Gesichtchen, und seine Miene wurde wieder ernst. »Wir haben hier nichts mehr, Prinzessin«, flüsterte er, und kurz geriet er ins Schwanken. Doch als er fortfuhr, war er sich seiner Sache wieder sicher. »Wir werden diesen Zauber finden, Alice, und dann baue ich dir ein Schloss in der Ebene, wo es schwarze Erde gibt. Es wird das schönste Schloss auf der Welt, voller Lachen und Sonnenschein und Glück. Und dann wirst du erleben, wie die Krähen rückwärts fliegen.«
Er sah es schon vor sich. Bea würde ihm helfen. Sie würde wissen, was zu tun war. Und wenn es überhaupt noch Träume gab, würden sie dort wahr werden. Thomas blickte seine Kinder voller Liebe an, und in seinen Augen standen Tränen, als er verkündete: »Wir fangen wieder von vorne an. Wir bauen uns ein neues Leben auf.«
Entschlossen schob Alice den leichten Anflug von Zweifel beiseite, der sich in ihr breit zu machen drohte.
Kapitel drei
Tante Bea war mit Raymond Downing verheiratet und lebte mit vieren ihrer sechs Kinder in dem winzigen Städtchen Billabrin im Norden von Neusüdwales. Onkel Ray war zehn Jahre älter als Bea und ein schweigsamer Mensch mit schottischen und irischen Vorfahren, dem es im Leben vor allem auf Ordnung und Disziplin ankam. Meist war er streng und mürrisch, und seine sanfteren Seiten bekam, wenn überhaupt, höchstens seine Frau zu sehen. Tante Bea hingegen war eine warmherzige, offene und freundliche Irin, deren Lächeln einen Raum zum Leuchten bringen konnte. Im Umgang mit ihrem schwierigen Ehemann hatte sie inzwischen Übung.
Die vier Kinder, die noch zu Hause wohnten, waren Nicholas, ein leicht zurückgebliebener Zehnjähriger, den alle nur Buddy nannten, Katie, die drei Monate jünger war als Alice, und die sechsjährigen Zwillinge Don und Dan. Die beiden älteren Söhne, der fünfzehnjährige Billy und der dreizehnjährige Paddy, lebten und arbeiteten über zweihundert Kilometer entfernt auf der großen Schafzucht- und Wollfarm Wangianna.
Tante Bea sprühte vor Energie. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätte sie noch viel mehr Nachwuchs in die Welt gesetzt, doch Onkel Ray war dagegen gewesen. Seit sie nur noch vier Kinder zu versorgen hatte, engagierte sie sich für die Schwächeren in der Gemeinde, was bedeutete, dass es im Haus stets von pflegebedürftigen Tieren sowie von Nachbarskindern wimmelte, von denen manche eigentlich Hunderte
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