Weites Land der Träume
auch noch ein Feigling.« Ungläubig starrte Alice auf den Fernseher, als Judd Gimbelstein, Freund und Kollege, schilderte, wie er und Teddy am Khundscherab-Pass überfallen worden waren: Teddy habe ihn seinem Schicksal überlassen, um seine eigene Haut zu retten. Teddy zuckte zusammen, als Judd in allen Einzelheiten beschrieb, wie er sich, an Höhenkrankheit, Flüssigkeitsmangel und einer Schusswunde im Bein leidend, durch einen heftigen Sandsturm einen steinigen Pfad entlang bis in eine Höhle geschleppt hatte, wo Teddy sich bereits versteckte. Teddy habe ihm unter Zwang das Versprechen abgenommen, der Welt zu erzählen, er habe ihn gerettet. Er habe gedroht, ansonsten seine Karriere zu zerstören.
»Das darf doch nicht wahr sein«, flüsterte Alice. Teddy war kreidebleich geworden.
»Ich wusste, dass er mithilfe seiner Beziehungen seine Drohung wahrmachen konnte«, fuhr Gimbelstein fort. »Wenn man unter Druck steht, fällt man eben zuweilen die falschen Entscheidungen.«
»Auf dem Foto, das Sie uns gezeigt haben, hat Edward Turlington zwei blau geschlagene Augen«, stellte der Reporter fest. Darauf folgte eine Nahaufnahme des Fotos. »Sie sagten, das sei Ihr Werk. Woher hatten Sie die Kraft dafür?«
»Keine Ahnung. Ich war einfach so wütend. Gleich danach bin ich umgekippt. Wahrscheinlich hat er da das Büchlein gefunden.«
»Warum haben Sie später weiter zusammen gearbeitet?«, fragte der Reporter.
»Als mir klar war, was für ein verabscheuungswürdiger Mensch er ist, wollte ich nichts mehr mit ihm zu tun haben. Dennoch hatten wir fest vereinbart, diesen Dokumentarfilm vorzubereiten, und ich fühlte mich an die Abmachung gebunden. Anschließend trennten sich unsere Wege. Ich hatte keine Ahnung, dass das Büchlein eine Fälschung ist. Und es tut mir sehr Leid für die Archäologie.« Judd lachte in die Kamera. »Persönlich jedoch finde ich, dass jeder das bekommt, was er verdient.«
»Also haben Sie letztendlich keinen großen Verlust erlitten«, meinte der Reporter abschließend. Teddy schaltete den Fernseher ab. Keiner sagte ein Wort.
»Warum hast du das getan, Teddy?«, flüsterte Alice schließlich. Teddy wich ihrem Blick aus.
»Ich habe mich so geschämt. Da ist mir eben nichts anderes eingefallen. Ich wusste, dass es mein Ende bedeutet, wenn die Wahrheit ans Licht kommt«, erwiderte Teddy bedrückt.
»Nein, das meine ich nicht. Warum hast du mich nicht eingeweiht? Warum hast du mich belogen? Als deine Frau hätte ich dir doch helfen können. Du hättest mich darauf vorbereiten müssen.« Ihre Stimme war kaum zu hören. Teddy fuhr sich mit den Händen durchs Haar.
»Die Situation wurde immer komplizierter. Und du bist in allem, was du tust, so tüchtig und organisiert.« Traurig sah er Alice an. »Wenn ich könnte, würde ich alles rückgängig machen. Das musst du mir glauben. Ich habe auf diesem Pass Todesängste ausgestanden.« Alice merkte ihm an, wie schwer ihm dieses Eingeständnis fiel. Ihre Gefühle wirbelten wild durcheinander, als sie sah, wie sehr er litt. »Nachdem Judd das Bewusstsein verloren hatte, deckte ich ihn zu und suchte dann die Höhle nach Eindringlingen ab. Als ich ein paar Steine wegschob, stürzte ich rückwärts in eine Kammer. Offenbar gehörte sie zu einem Gängesystem von Krypten, die Teil der Ruine eines buddhistischen Tempels waren. Das Büchlein befand sich in einem halb geschlossenen Sarkophag. Rückblickend betrachtet war das verdammte Ding wirklich zu leicht zu finden, aber in diesem Moment wollte ich nicht logisch denken, sondern glauben, dass es alt ist. Darin unterscheide ich mich nicht von den anderen so genannten Experten, die derart in Begeisterung geraten sind.« Mit bebenden Schultern wandte er sich ab und wischte sich mit den Händen über die Augen.
Wie erstarrt stand Alice da und betrachtete ihn. Das also war der Mann, den sie geheiratet hatte. Hinter der glatten und ansehnlichen Fassade verbarg sich ein Schwächling, Feigling und Lügner. Nun verstand sie, warum der Kontakt zu Judd und Holly so plötzlich abgebrochen war, und auch die Auseinandersetzungen am Telefon und Teddys Weigerung, über Judds Reaktion auf die Entdeckung des Büchleins zu sprechen. Es fiel ihr wie Schuppen von den Augen. Wie viel von ihrer Ehe begründete sich sonst noch auf Lügen? Sie erinnerte sich an das Parfüm an Teddys Hemd, von dem sie gedacht hatte, dass sie es sich nur einbildete. An ihre Sorge, wenn sie ihn nicht erreichen konnte, obwohl er doch angeblich in
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