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Weites wildes Land

Titel: Weites wildes Land Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Shaw Patricia
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oder Angriff? Dem Zyklon gingen ungeheure Regenfälle voraus. Schon seit Tagen prasselten selbst für die Regenzeit ungewöhnlich gewaltige Wassermassen auf Port Darwin hernieder. Gleichzeitig rasten heftige Windböen über die Stadt hinweg, deren Schicksal sich erst noch entscheiden sollte. Etwa um Viertel nach zehn in dieser regnerischen Tropennacht setzte der Zyklon zu seinem selbstmörderischen Sturm auf die Küste an; selbstmörderisch deswegen, weil er bald in sich zusammenfallen würde, wenn er erst einmal die Küstenlinie überquert hatte. Allerdings würde er viele Menschen mit ins Grab nehmen. Ein Gebirge aus Wind und Regen erhob sich am Horizont und peitschte zornig die Oberfläche des Ozeans auf. Dann wälzte es sich unter entsetzlichem Getöse auf das Land zu. Selbst die Pferde der Apokalypse hätten der ungeheuren Geschwindigkeit, mit der diese Wand der Zerstörung voranrückte, nicht entrinnen können. Sie wirbelte den Grund des Meeres auf und raste donnernd über die Korallenriffe. Dunkel gefärbt von den Trümmerteilen, die er mit sich führte, preschte der Zyklon voran. Die Bewohner des Meeres, vom kleinsten Fisch bis hin zu den riesigen Wassergetieren, wußten, daß sie nur eine Überlebenschance hatten: sie mußten hinaus aufs offene Meer, um diesem aufgewühlten Verhängnis zu entgehen. Doch vielen gelang es nicht: sie wurden von den schäumenden Wassermassen fortgespült und an den Strand geschleudert, wo sie elend verendeten. Die ungeheuren Winde, deren Ausläufer sich meilenweit erstreckten, gewannen immer mehr an Geschwindigkeit, donnerten gegen die Küste und forderten das Land zum Kampf heraus.    
     
    * * *
     
    An diesem Weihnachtsabend saß Sam Lim mit seiner Familie im Haus seines Onkels Wang Lee am Tisch. Von außen wirkte die kleine Holzhütte unscheinbar und unterschied sich nicht von den übrigen Häuschen, wie man sie überall in der Stadt fand. Innen allerdings herrschte eine leuchtende Pracht. Rote und goldene Behänge verbargen die häßlichen Mauern, und anstelle von Wänden wurden die Zimmer von kunstvoll bemalten Wandschirmen geteilt. Die Möbel bestanden aus geschnitztem oder lackiertem Holz und waren mit Plüsch bezogen, und in den langen, glänzend polierten Regalen stand das feinste Porzellan. Damit alle Festgäste Platz fanden, hatte man die Wandschirme beiseite geräumt und lange Tische aufgestellt, die mit Blumen, Fächern, zarten Papierfigürchen und bunten Körben geschmückt waren. Da der chinesischen Gemeinde in Palmerston viel an erlesenen Gaumenfreuden lag, war auch das Weihnachtsfest wieder eine Gelegenheit, um aufzutischen, daß sich die Tafel bog, und fröhlich im Familienkreis zu speisen. Sam Lim amüsierte sich großartig, vor allem, weil er diesmal nicht selbst hatte Hand in der Küche anlegen müssen. Seit Mrs. Hamilton ihn vor einem Jahr nach Black Wattle mitgenommen hatte, hatte er seine Familie nicht mehr gesehen. Also war er heute abend der Ehrengast, und er ließ es sich gut gehen. Er saß zur Rechten seines Onkels, hörte sich alle Neuigkeiten an und erzählte, wie es ihm als oberstem Koch auf der großen Farm ergangen war. Während das Mahl seinen Lauf nahm, freute er sich schon auf das Fan Tan später am Abend. Doch als die Tische abgeräumt wurden, forderte Wang Lee seinen Neffen Sam Lim auf, ihn in den Tempel zu begleiten, um sich bei den Ahnen in Erinnerung zu rufen und um eine glückliche Zukunft in diesem fremden Land zu bitten. Sam ließ sich nicht anmerken, daß ihm das nicht sehr willkommen war. Stattdessen meinte er zu seinem Onkel, daß ein alter Mann wie er in einer solchen Nacht nicht draußen herumlaufen sollte. Darauf strich sich Wang Lee allerdings nur lächelnd über seinen langen, dünnen Schnurrbart. »Das Schicksal bestimmt das Wetter. Das Wetter bestimmt die Jahreszeiten, und die Jahreszeiten decken uns den Tisch. Ich muß den Ahnen meine Achtung erweisen, aber wenn mein lieber Neffe mich nicht begleiten möchte…« »Nein, nein«, erwiderte Sam Lim. »Ich fühle mich geehrt, Onkel.« Also machten sich die beiden Männer durch die regennassen Straßen auf den Weg. Sie hatten Opfergaben bei sich, die sie mit der gebührenden Achtung auf die mit einem roten Teppich bedeckten Stufen vor den Altar im Tempel legen wollten. Beim Hineingehen entdeckte Sam Lim die neuen steinernen Löwen, die den Eingang bewachten, und er war froh, daß er mitgekommen war. Zwar war sein Onkel ein unerschrockener Mann, aber Sam Lim fürchtete sich

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