Weites wildes Land
dem Haus verstecken. Komm zurück!« Doch Netta blieb nicht stehen, und da sie das Kind auf dem Arm trug, folgten ihr die beiden Mädchen. Sie liefen an leeren Grundstücken vorbei. Immer wieder kamen sie wegen des starken Windes vom Weg ab. Netta, die sich nach einem geschützten Platz umsah, hielt auf ein ausgetrocknetes Flußbett zu. Während der Junge sich an ihren Hals klammerte, stolperte sie über den unebenen Boden und kämpfte sich durch dichtes Gebüsch, das ihnen in der Dunkelheit den Weg versperrte. Um sie herum wurden riesige Bäume von Wind und Regen gepeitscht und nahmen erzitternd den Kampf ums Überleben auf. Endlich fand Netta das Flußbett und rutschte den glitschigen Abhang hinab. Es war tiefer, als sie es in Erinnerung hatte, doch das war nur um so besser, da sie dort vor dem Sturm Schutz suchen konnten. Die Zwillinge kletterten, vor Angst wimmernd, hinterher. Netta schrie ihnen zu, in ihrer Nähe zu bleiben. Schließlich war sie unten angekommen und kauerte sich an einen Baumstamm. Die drei Frauen kuschelten sich eng aneinander und lauschten, wie der Sturm über ihre Köpfe hinwegtobte. Inzwischen waren sie bis auf die Haut durchweicht, und so dauerte es einige Zeit, bis es Netta auffiel, daß um sie herum Wasser strömte. Erschrocken sprang sie auf und überlegte, wo sie sich nun verstecken sollten. Als sie aufblickte, entdeckte sie einen starken Ast, der sie vielleicht halten konnte. »Gebt mir den Jungen«, rief sie den Zwillingen zu, nachdem sie die Haltbarkeit des Astes überprüft hatte, und die Mädchen reichten ihr Wesley hinauf. Netta setzte ihn in eine Astgabel. Bald hatten sich ihre Augen an die Dunkelheit gewöhnt, und sie stellte fest, daß der Ast zur Spitze hin dünner wurde. »Kein Platz mehr hier oben!« schrie sie zu den Zwillingen hinunter. »Und der nächste Ast ist zu hoch. Geht zurück!« Zuerst widersprachen sie ihr unter Tränen und klammerten sich an den Baumstamm. »Tut, was ich euch sage, oder Missus Maudie verpaßt euch eine Abreibung!« rief Netta schließlich. Immer noch weinend, verschwanden die beiden in der Nacht. Netta umklammerte Wesley. »Jetzt bleiben wir ganz ruhig sitzen, und wenn es Morgen ist, klettern wir wieder runter. Wir sind jetzt kleine Bären und schlafen im Baum.« Wortlos nahm Wesley ihre Erklärung hin. Er ließ den Kopf an ihre Schulter sinken, seine kleinen Hände umfaßten den Baum. In der Zwischenzeit war der Regen stärker geworden, und das Geräusch des Windes hatte sich zu einem lauten Heulen gesteigert. Netta konnte hören, wie das Wasser zischend in das Flußbett einströmte. Am liebsten hätte sie sich geohrfeigt, daß sie nicht an diese Möglichkeit gedacht hatte. Wieder konnte sie das Meer riechen, und der Geruch wurde kräftiger. Ihr fiel ein, daß jetzt die Flut kommen würde. Das Flußbett selbst wurde nun zur Bedrohung, denn das Meer bahnte sich rücksichtslos seinen Weg. Es fegte Sanddünen beiseite, damit es ungehindert weiterströmen konnte, und vereinte sich mit dem Flutwasser, wobei die ungeheuren Regenfälle den Pegel noch steigen ließen. Der ausgetrocknete Fluß hatte sich wieder in einen majestätischen, reißenden Strom verwandelt. Seine Fluten schossen dem Meer entgegen, wo sie auf den ungeheuren Sog der Gezeiten trafen und eine Flutwelle erzeugten, die mit zerstörerischer Macht landeinwärts drängte. Oben am Ufer hörten Polly und Pet, die sich an die Wurzeln eines Feigenbaums gekauert hatten, Nettas Schreie. Sie fingen an zu weinen, doch ihre Stimmen verloren sich im Heulen des teuflischen Windes.
Zehntes Kapitel
Seit Tagen schon hatte der Zyklon draußen auf dem Timor-Meer seine Kräfte gesammelt und war dann im Zickzackkurs über den Ozean gefegt. Zuerst steuerte er drohend auf das kleine Städtchen Bathurst zu, drehte dann aber in die Weiten des Joseph-Bonaparte-Golfs ab. In seinem Zentrum wurden gewaltige Luftmassen umhergewirbelt. Doch selbst ein Zyklon – für gewöhnlich wird er von sintflutartigen Regenfällen begleitet – kann nicht ewig weiterwandern. Wie ein alles niederwalzender Molloch wandte er sich der Arafura-See und von dort aus in stetem Kurs Port Darwin zu und schlug einen geschickten Haken, wobei er zusehends an Geschwindigkeit gewann. Niemand kann vorhersagen, wann ein Zyklon endgültig zuschlägt. Die australischen Aborigines betrachten diesen Wartezustand als die Zeit, in der die mächtigen Geister des Windes sich mit den Dämonen des Regens beraten; die Frage lautet: Rückzug
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