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Welch langen Weg die Toten gehen

Welch langen Weg die Toten gehen

Titel: Welch langen Weg die Toten gehen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Reginald Hill
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geboren waren? Wie sonderbar, dass ausgerechnet er, dessen Vater weiß Gott wo geboren war, nun davon redete, ein guter Amerikaner zu sein und in die Heimat zurückzukehren, während ihr, deren Vorfahren nach allem, was sie wusste, seit Jahrhunderten gute Amerikaner gewesen waren, kein einziger Ort in den Staaten einfallen wollte, dem sie so was wie emotionale Verbundenheit entgegenbringen konnte – sah man von einem winzigen, einige Quadratmeter großen Fleck ab. Okay, stimmte sie insgeheim zu, Heimat war etwas Heiliges, für sie aber war hier ihre Heimat – die seit letzter Nacht sogar noch heiliger geworden war. Tony würde das einsehen müssen.
    Der Text war verschwunden und von einem Bildschirmschoner ersetzt worden – dem Sternenbanner, das in einer starken Brise flatterte.
    Sie schaltete das Gerät aus, lehnte sich zurück und schloss die Augen. Tony hatte Recht. Sie brauchte nicht viel Schlaf, und sie hatte es zur höchsten Vollkommenheit gebracht, nach Belieben für einen kurzen Zeitraum wegzudösen. Diesmal gab sie sich vierzig Minuten.
    Als sie erwachte, stand die Sonne am Himmel, der Nebel lichtete sich. Sie stand auf, löste ihren Morgenmantel, ließ ihn zu Boden gleiten und sprang in den Pool. Ihr schlanker, nackter Körper tauchte glatt ins Wasser ein, und die Wellen, die sie erzeugte, hatten sich nahezu wieder aufgelöst, als sie nach zwei Dritteln der Bahn auftauchte.
    Sie schwamm sechs Bahnen in langen, eleganten Brustzügen. Sie verließ das Becken auf etwas konventionellere Weise als ihr Ehemann, aber auf ihre Art nicht weniger athletisch.
    Sie schlüpfte in den Morgenmantel. Der Aufdruck auf dem Rücken gefiel ihr nicht, dafür aber Tony, dessen schlechte Witze ein geringer Preis waren für all das, was er für sie getan hatte. Um manche Dinge allerdings hatte sie sich selbst zu kümmern. Wie vergangene Nacht. Etwas war geschehen, was sie nicht verstand. Wenn sie dahinterkommen und sich dagegen wappnen konnte, würde sie es tun. Aber sollte sich herausstellen, dass es Teil jener Finsternis war, gegen die man sich nicht schützen konnte – dann was soll’s? Die Finsternis war ihr vertraut.
    Jedenfalls war das alles banal, verglichen mit dem Ereignis, von dem sie etwas verstand. Der Geburt von Helens Zwillingen. Die meisten Sonnenaufgänge erwiesen sich als trügerisch, trotzdem genoss man das Licht, auch wenn man wusste, dass alles nur Illusion war.
    »Von fremden Ländern und Menschen« aus Schumanns
Kinderszenen
pfeifend, ging sie durch die Tür zurück ins Haus.

3
    Eine hübsche Vase
    U m zehn Uhr morgens – die triumphierende Sonne hatte bereits den Nebelvorhang emporgezogen, und an den Lamellen der Bürorollläden rüttelte die frische Brise, auf deren Stichwort hin die wilden Narzissen im Blacklow Cottage zu tanzen begonnen hatten – war sich Pascoe seiner Ungewissheiten weit weniger gewiss.
    Dalziel hegte keinerlei Zweifel. Seine letzten Worte hatten gelautet: »Räum hier auf, Pete, dann knallst du alles Paddy Ireland auf den Schreibtisch. Um Selbstmord haben sich die Uniformierten zu kümmern.«
    Er hatte Recht, natürlich, nur entsprach seine Vorstellung von »Aufräumen« nicht derjenigen Pascoes, weshalb er auf dem Weg zur Arbeit einen Abstecher zum Dombezirk einlegte, wo Archimagus Antiques lag.
    An der Ladentür hing noch das »Geschlossen«-Schild, als er jedoch durch die Scheibe spähte, bemerkte er drinnen eine Bewegung. Er klopfte ans Schaufenster. Eine Frau erschien, die lautlos »geschlossen« sagte und aufs Schild deutete. Pascoe drückte seinen Ausweis gegen das Glas. Sie nickte und öffnete die Tür.
    »Ich wusste nicht, was ich tun sollte«, sprudelte es aus ihr heraus, noch bevor er eingetreten war. »Es war in den Nachrichten, verstehen Sie, und ich wusste nicht, ob ich in die Arbeit kommen sollte oder nicht, aber David meinte, ich sollte kommen, nicht wegen des Geschäfts, sondern falls von der Polizei jemand auftaucht und Fragen stellen will, damit hatte er ja Recht, er wäre sogar selbst mitgekommen, wenn er nicht bei der armen Sue-Lynn vorbeischauen will, da hätte ich ihn begleitet, wenn es nicht vernünftiger gewesen wäre, hierherzukommen.«
    Sie holte tief Luft. Sie war groß, gut gebaut und ziemlich hübsch anzusehen. Sie strich sich mit den Fingern durch das kurze, kastanienbraune Haar. Es stand ihr gut, wenn sie außer Atem war. Anfang zwanzig, schätzte Pascoe, und mit einem Akzent, den sie nicht in der hiesigen Gegend aufgeschnappt hatte. Sie

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