Welch langen Weg die Toten gehen
schuldest dem Land was, verstehe, aber du hast es zurückgezahlt, du hast einige Jahre deines Lebens im Krieg geopfert. Eigentlich hast du ihm fast dein ganzes verdammtes Leben gegeben.«
Worauf sein Vater erwiderte: »Weißt du, warum ich das eben nicht getan habe? Ich habe dort gelegen, ich war am Verbluten, und dieser Sergeant, ein Redneck aus Arkansas, der bis dahin nie ein gutes Wort für mich übrig hatte, der für niemanden ein gutes Wort übrig hatte und mich also nicht anders behandelte als die anderen auch, der packte mich und warf mich über die Schulter und trug mich raus. Ich baumelte über seiner Schulter und sah, wo die Kugel ihn erwischt hatte, roch den verbrannten Stoff, wo sie durch seine Uniform gegangen war, sah das pulsierende Blut herausquellen und über seinen Rücken laufen. Er schleppte mich fünfzig Meter weit, legte mich so sanft ab wie einen Hut voller Eier. Dann setzte er sich hin und starb. Das hat ein Redneck aus Arkansas getan. Weil ich ein Soldat war. Weil ich Amerikaner war. Und weil ich Hilfe brauchte. Also erzähl mir nichts vom Zurückzahlen. Das werde ich nie zurückzahlen können, und wenn ich ewig leben sollte.«
Kay hatte Hilfe gebraucht. Ein-, zwei-, drei-, viermal. Und er hatte dabei erfahren, was sein Vater wusste – dass man sich mit jedem Mal, mit dem man gab, nur tiefer in die Schulden verstrickte.
Aber persönliche und patriotische Schulden waren nicht immer das Gleiche. Vergangenen September hatte sich die Welt verändert. Jetzt musste er sich klar werden, wo er stand. In jeder Hinsicht. Und er fragte sich, ob er dort sein sollte. In jeder Hinsicht.
Über die Lautsprecher kam eine Durchsage. Mein Gott, sie waren dem Fahrplan voraus! Kein Wunder, dass der Typ so eitel und selbstgefällig wirkte.
Er sah auf den Bildschirm des Laptops, der in den Schlafmodus gefallen war. Es gab einige Dinge, die er vor dem Meeting noch durchgehen wollte, aber das hatte nun keine Eile mehr. Er würde noch viel Zeit zum Totschlagen haben. Außerdem brauchte er zur Untermauerung dessen, was er sagen wollte, keine Fakten oder Diagramme.
Er starrte auf den leeren Monitor und sah vor seinem geistigen Auge wieder Junius’ Artikel, den er diesen Morgen gelesen hatte.
Er war sich ziemlich sicher, wer hinter dem Namen Junius steckte. Er hatte es bislang niemandem gesagt, weder Kay noch den anderen. Aber es würde ihn nicht überraschen, wenn Kay bereits seit geraumer Zeit selbst dahintergekommen wäre. Hätte er den anderen davon erzählt, hätte er sich infolgedessen wahrscheinlich mit Dingen herumschlagen müssen, womit er sein bereits über Gebühr beanspruchtes Gewissen nicht auch noch belasten wollte.
Plötzlich musste er an den armen Dreckskerl Maciver denken. An die beiden armen Dreckskerle dieses Namens. Die beide an einem Schreibtisch, mit einer Knarre unter dem Kinn, ihr Ende gefunden hatten.
Wie der Vater, so der Sohn.
Genau wie bei ihm. Wie sein Vater. Wenn der Dienst am Vaterland bedeutete, dass man verwundet wurde, dann war das eben der Preis, den man zu zahlen hatte.
Und trotzdem blieb man dabei in den Miesen.
5
Totaler Quatsch
D ie erste Person, auf die Pascoe beim Betreten der Dienststelle traf, war DC Shirley Novello. Er lächelte ihr zu. Sie erwiderte das Lächeln nicht. Das tat sie so gut wie nie und schon gar nicht automatisch. Er war bei der jungen Beamtin schon lange zu dem Schluss gekommen, dass es sich lohnte, sie im Auge zu behalten. Sie war scharfsinnig, direkt, von rascher Auffassungsgabe; sie konnte Befehle annehmen, selbstständig denken, hielt sich fit und hatte, als es darauf ankam, ihren Mut unter Beweis gestellt.
Das alles stand in den Personalakten. Nicht darin stand – da sich die politisch korrekte Polizei mit solchen Trivialitäten nicht weiter abgab – jedweder Kommentar zu ihrem Aussehen. Dies war, gelinde gesprochen, eher unbemerkenswert. Ein markantes Gesicht bar aller Kosmetik, kurze mausbraune Haare, die keinerlei Anzeichen aufwiesen, dass sie vor kurzem die Bekanntschaft mit einem Coiffeur oder einer Coiffeuse gemacht hätten, Kleidung, die meist aus Schlabber-Tarnsachen bestanden und deren Farbpalette von Trostlos-Grau bis Trostlos-Braun reichte.
Pascoe hatte jedoch miterlebt, wenn sie sich in Schale warf, und wusste deshalb, dass sie sich zur Arbeit bewusst so kleidete. Er vermutete, dass hier eine Beamtin war, die Ehrgeiz besaß und weder Zeit noch Energie verschwenden wollte, sich mit den Neandertalern und Hohlköpfen
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