Welch langen Weg die Toten gehen
Bett. Ich ging auf mein Zimmer und verschloss die Tür. Nach ein paar Stunden musste ich raus zum Pinkeln. Als ich aus der Toilette kam, hörte ich unten Geräusche. Jemand spielte im Musikzimmer auf dem Klavier. Wir hatten alle Unterricht genommen, bei Cress und mir hatte es aber nicht viel gefruchtet. Dad, der die Musik sehr liebte, war enttäuscht, Mutter war es allerdings ziemlich egal, weshalb wir schnell wieder aufhörten. Bei Helen war es anders. Sie hatte Talent, und Kay, die selbst ein wenig spielte, schickte sie weiterhin in den Unterricht, was Dad sehr freute. Eines der ersten Stücke, die sie gelernt hatte, etwas aus Schumanns
Kinderszenen
, wurde zu einer Art Erkennungsmelodie für sie. Genau diese Melodie hörte ich jetzt, ich dachte mir also, dass sie sich aus dem Bett geschlichen hatte. Ich wollte den großen Bruder spielen und ging hinunter, um sie mir vorzuknöpfen.
Ich öffnete die Tür zum Musikzimmer. Drinnen war es stockfinster, die Vorhänge waren vorgezogen, kein Licht brannte. Ich trat ein. »Okay, Schwesterlein, Zeit für kleine Mädchen, ins Bett zu gehen«, sagte ich.
Eine Stimme sagte: »Kommt mir sehr gelegen.« Ich machte das Licht an und sah Kay auf dem Klavierhocker. Sie war vollkommen nackt.
Ich hätte mich einfach umdrehen und verschwinden sollen, aber ich war so wütend, dass ich stattdessen auf sie zuging und sie anbrüllte.
Sie fuhr herum und sah mich an, hatte die Beine gespreizt, im Gesicht dieses Lächeln, bei dem man das Gefühl hatte, dass sie mehr über einen wusste als man selbst, und dann sagte sie: »Irgendwelche Wünsche, Pal?«
Ich packte sie an den Schultern. Ich wollte sie mit Gewalt wegreißen, aber sie ließ sich widerstandslos nach vorn ziehen, und als Nächstes lag ich auf dem Rücken und sie auf mir drauf. Ich trug nur Shorts, wie beim letzten Mal berührten sich also unsere nackten Körper, und wie beim letzten Mal spürte ich, wie es mich erregte. Aber ich war kein unerfahrener Pubertierender mehr. Ich versuchte sie wegzuschieben, aber sie klammerte sich an mich, schlang die Arme und Beine um mich, krallte mir die Fingernägel in den Rücken, und dabei lachte sie, als wäre alles nur ein Spiel, und mir gelang es lediglich, sie zur Seite zu rollen, so dass ich jetzt oben war. Aber nun, ich gestehe es, wollte ich sie vögeln, ich wollte sie vögeln, so heftig, dass es ihr richtig wehtat. Wie bei einer Vergewaltigung, denke ich. Nicht zum Vergnügen, sondern um der Macht willen.
Aber ich wusste, dass es genau das war, was sie ebenfalls wollte. Unbedingt. Um ihre verkommenen Gelüste zu befriedigen. Zum Vergnügen, und ebenfalls um der Macht willen. Würde sie mich nur einmal in sich haben, hätte sie mich auf immer und ewig unter Kontrolle, das wusste sie.
Ich weiß nicht, was geschehen wäre. Aber in diesem Augenblick hörte ich eine Stimme nach ihr rufen. Es war Helen auf der Treppe. Sie musste aufgewacht sein und in Kays Zimmer nachgesehen haben, und als sie sie dort nicht fand, hatte sie sich auf die Suche gemacht.
Ich denke, kein anderer Mensch hätte es vermocht, Kays Lust Einhalt zu gebieten. Bei Dad, beim Erzbischof von Canterbury, bei jedem anderen hätte sie sich nur noch fester an mich geklammert und hätte ihre wahre Freude daran gehabt, inflagranti mit ihrem Stiefsohn erwischt zu werden.
Aber nicht bei Helen. Wenn in diesem Sammelsurium von unbeherrschten, selbstsüchtigen Trieben, aus denen ihr ganzes Wesen besteht, ein einziger Funke Uneigennützigkeit schlummerte, dann wurde er von Helen zum Leben erweckt.
Sie stieß mich weg, stand auf und schlüpfte in ihren Morgenmantel, den sie auf das Klavier gelegt hatte. Dann ließ sie mir wieder dieses Lächeln zukommen und sagte: »Vielleicht haben wir beim dritten Mal ja mehr Glück, was, Pal?«
Sie ging hinaus. Ich hörte sie im Flur Helen begrüßen, mit ganz normaler Stimme, als wäre absolut nichts geschehen. Mein Gott, was hätte sie für eine Schauspielerin abgegeben! Aber sie ist mehr als eine Schauspielerin, sie ist eine Lamia. Sie nimmt zur Hexerei Zuflucht, damit verschleiert sie die Tatsache, dass sie in Wirklichkeit eine Schlange ist. Das sagte ich ihr einmal, und sie lächelte mich an, als hätte ich ihr ein Kompliment gemacht, und antwortete darauf, sie hätte von Anfang an gespürt, dass uns beiden die Liebe zur Poesie gemeinsam sei. Mein Gott, sie weiß, wie sie einem unter die Haut gehen kann.
Am nächsten Morgen stand ich früh auf und packte meine Sachen. Ich wollte nicht
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