Welch langen Weg die Toten gehen
erlebt seit diesem traurigen Vorfall, wie nennt man es wieder?
Ten eleven?
«
»Nine eleven«
, sagte Gedye.
»Genau. Was für eine Zeit, als Patriotismus und Profit noch Hand in Hand gingen, als das eine nicht ohne das andere zu haben war. Jetzt ist alles anders, alles hat sich verändert. In den Sechzigern ging’s noch um die Kommunisten im Schrank, jetzt um die Terroristen unterm Bett.«
»Ich denke, unser Freund hat ganz bestimmte Gründe, warum er mit dem Strom schwimmen möchte«, sagte Gedye. »Was wissen Sie über seinen Hintergrund?«
»Nicht viel. Keine Ahnung, wo er zur Universität ging. Jedenfalls nicht in Eton, das wüsste ich. Vielleicht in Winchester. Die können gut mit Ausländern.«
Manchmal wusste noch nicht einmal Tim Gedye, ob Warlove es ernst meinte oder nur Spaß machte.
»Ich meinte seine Herkunft«, sagte er.
»Was ist mit der? Eine tschechische Familie, hätte ich geraten, erste oder zweite Generation Amerikaner.«
»Wir raten nicht. Nein, kein Tscheche. Die Wangenknochen und die Nase sind, wie Sie sich vielleicht denken können, nicht slawischer Natur. Der Name der Familie lautet oder lautete Kafala. Oder vielleicht auch nicht.«
»Sie und Ihre Jungs raten vielleicht nicht, aber Sie haben nichts dagegen, in Rätseln zu sprechen.«
»Tut mir leid. Er ist arabischer Herkunft, nicht europäischer. Im Islam bedeutet
kafala
so viel wie Sorge tragen, Unterstützung, Unterschlupf gewähren, auch ganz konkret, da es von der Wurzel des Wortes kommt, das füttern bedeutet.
Kafala
ist ihre Form, sich um obdachlose, ausgesetzte Kinder und Waisen zu kümmern. Es bestehen einige oberflächliche Ähnlichkeiten zur Adoption, wie der Westen sie kennt, aber es gibt signifikante Unterschiede. Bei der
kafala
erhält das Kind nicht automatisch das Erbrecht, außerdem muss es seinen Familiennamen behalten. Man mag das Kind als Teil der eigenen Familie behandeln, man liebt es vielleicht sogar, als wäre es Teil der Familie, aber es ist strikt verboten, anderen auch nur weismachen zu wollen, dass es wirklich zu eigenen Familie gehört.«
»Faszinierend«, gähnte Warlove. »Und zweifellos von einiger Relevanz.«
»In der Tat. Irgendwann um die Jahrhundertwende wurde Kafkas Großvater in einem Lager auf Ellis Island aufgegriffen, er war fünf oder sechs Jahre alt, ohne jede Begleitung, er schien zu niemandem zu gehören. Ob er Kafala oder so ähnlich hieß oder ob er so genannt wurde, weil er unter die Obhut dieses Systems genommen wurde, lässt sich aus dieser zeitlichen Distanz unmöglich sagen.«
»Und die Änderung zu Kafka?«
»Die kam nach dem Krieg. Tonys Vater wurde 1943 eingezogen. Er hat sich nichts zuschulden kommen lassen, wurde verwundet, lobend erwähnt, hatte sich gut eingefügt. Aber als er rauskam, wurde ihm schnell klar, dass noch nicht mal ein Purple Heart einen dunkelhäutigen Typen mit Namen Kafala davon verschonte, ans untere Ende der sozialen Leiter relegiert zu werden. In der Armee war er häufig, weil sein Name manchmal unleserlich war, irrtümlicherweise Kafka genannt worden. In der Kameraderie, die sich unter Soldaten entwickelt, schien das alles keine so große Rolle gespielt zu haben, aber als Zivilist dürfte er schnell herausgefunden haben, dass ein sonnengebräunter Mitteleuropäer namens Mal Kafka wesentlich besser dastand als ein brauner Araber aus dem Nahen Osten namens Amal Kafala.«
»Unser Tony ist also eigentlich ein Araber? Kein Wunder, dass er dort so ein Star ist.«
»Ja. Aber wie sein Vater vor ihm ist er ganz und gar zum amerikanischen Traum konvertiert, und wie die meisten Konvertiten hat er wahrscheinlich das Gefühl, dass er das, was ihm an Herkunft fehlt, durch Hingabe und Treue wettmachen muss.«
»Er will also noch mehr Vaterlandsliebe demonstrieren, was? Wie steht’s mit der Religion? Er ist doch kein Moslem?«
»Nein, so weit wir wissen. Aber eines scheint sich aus seiner Biografie ganz klar ablesen zu lassen, vor allem in Hinsicht auf seine Frau. Er hat vielleicht den Namen abgelegt, hatte wahrscheinlich nie was mit der islamischen Religion am Hut, aber die Idee der
kafala
spielt noch immer eine große Rolle in seinem Denken. Er kümmert sich um obdach- und elternlose Kinder. Sie entschuldigen mich.«
Links von Gedyes Brustbein war eine leichte Bewegung zu erkennen.
»Sie haben doch keinen Herzinfarkt, alter Junge?«, fragte Warlove.
Gedye ging nicht darauf ein, sondern sprach ins Leere hinein.
»Ja?«
Er lauschte, runzelte die Stirn und
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