Welch langen Weg die Toten gehen
Treffen gelaufen sei, worauf er nur Unverständliches gezischt und sie nur die Wörter
Penner
und
Warlove
herausgehört hatte. Dann war die Verbindung abgebrochen oder er hatte das Gespräch beendet.
Das klang nicht gut. Sie wusste, wie wenig er sich auf diese Begegnung gefreut hatte, und falls er dem Penner seine Zweifel anvertraut hatte, die ihn in immer schnellerer Abfolge plagten, konnte das Treffen nicht sehr angenehm verlaufen sein. Das Mitgefühl für ihren Mann hielt sich allerdings in Grenzen, sobald ihre persönlichen Erwägungen mit ins Spiel kamen. Sein Gerede vom »nach Hause zurückkehren« beunruhigte sie. Das hier war ihr Zuhause, nach der vergangenen Nacht umso mehr. Das musste er verstehen. Sie und Warlove konnten sich daher in gewisser Weise als Verbündete betrachten, keiner von ihnen wollte, dass Kafka das Handtuch warf und sich zur Ruhe setzte. Und außerdem, was wollte er in den Staaten überhaupt?
Seine Memoiren schreiben, hatte er einmal erwidert, als sie ihn darauf angesprochen hatte.
Sie betete im Stillen, dass er dies Warlove gegenüber noch nicht mal spaßeshalber angedeutet hatte. Über die wahrscheinlichen Folgen einer solchen Drohung machte sie sich keinerlei Illusionen.
Nein, beruhigte sie sich, Tony war nicht dumm. Aber er war mutig, was manchmal ebenso gefährlich war.
Sie schaltete den Computer aus, stand auf und ging ins Wohnzimmer. Sie setzte sich, zögerte zwischen dem Fernseher und den Zeitungen, die sich auf dem Tisch neben ihrem Sessel stapelten. Schließlich ignorierte sie beides und nahm das dicke Buch zur Hand, das neben den Zeitungen lag. Auf dem Schutzumschlag prangte die Zeichnung eines ovalen Gesichts mit gespitzten Lippen, leicht schief stehendem Mund, strengem Haar, ernster Miene. Wenn der Künstler sie richtig getroffen hatte, dann war sie eine Frau, die alles für sich behielt, nichts preisgab.
Außer dem Verehrer ihre Weisheit.
Kay schloss die Augen, schlug das Buch auf, legte den Finger auf eine Seite, öffnete die Augen und las die Stelle, auf die sie zeigte.
1742
Welch langen Weg die Toten gehn,
Wird spät erst offenbar –
Mit ihrer Rückkehr rechnen wir
Noch manch begierig Jahr.
Und dass wir ihnen schon gefolgt,
So bilden wir uns ein
Derart vertraut und nah ist uns,
Ihr teures Schattensein.
Zweimal las sie das Gedicht, ihre Miene dabei so unergründlich wie jene auf dem Schutzumschlag.
In der Ferne hörte sie, wie eine Tür geöffnet und geschlossen wurde.
Sie klappte das Buch zu, erhob sich, ging zum Sideboard, auf dem Dekanter und Gläser standen, und schenkte in eines zwei Fingerbreit Scotch ein.
Einen Augenblick später ging die Wohnzimmertür auf, und Tony Kafka trat ein.
Sie reichte ihm den Drink, den er in einem Zug leerte.
»Hallo«, sagte er und gab ihr das Glas zum Nachschenken.
»Hallo. Harter Tag?«
»Kann man wohl sagen.«
»Du solltest dich von Warlove nicht so kriegen lassen.«
»Es war nicht nur Warlove. Ich hab dir doch gesagt, Gedye war auch dabei.«
»Und? Er ist doch auf unserer Seite, oder?«
Er trank den zweiten Scotch aus.
»Ja? Ich weiß nicht mehr, welche Seite welche ist. Zu Hause hat sich einiges geändert, aber nicht hier, nicht bei Typen wie Warlove. Alles so wie früher. Die Briten haben jetzt das Sagen, aber du kannst deinen süßen Arsch drauf verwetten, wenn uns die Scheiße um die Ohren fliegt, heißt es nur, ›na ja, alter Junge, was willst du von einem Yankee-Unternehmen schon anderes erwarten?‹«
»Das hast du doch so nicht gesagt, oder?«, fragte sie beunruhigt.
»Nicht in dieser Deutlichkeit. Hey, mach dir nicht so viele Sorgen, die Botschaft haben sie wahrscheinlich verstanden, aber sie töten nicht mehr den Überbringer der Botschaft, jedenfalls nicht, wenn er zu Hause verängstigte Freunde sitzen hat. Ich hab im Zug mit Joe gesprochen und ihn ins Bild gesetzt, soweit das über eine offene Leitung möglich war. Ich meinte, ich würde ihn noch mal anrufen, wenn ich hier bin, aber wir einigten uns darauf, dass wir die für den nächsten Monat anberaumte Strategiesitzung vorantreiben sollten, ich werde also in den nächsten Tagen nach Hause fliegen.«
Nach Hause
, dachte sie.
»Du passt auf dich auf, nicht wahr, Tony«, sagte sie. »Lehn dich nicht zu weit aus dem Fenster, wenn du dir nicht sicher bist, dass Joe und die anderen auf deiner Seite stehen und nicht von unten zusehen, wie Warlove und sein Freund dir einen Stoß verpassen.«
»Mach dir um mich keine Sorgen. Ich
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