Wellentraum
Lucy einen Job, jetzt, da das Schuljahr zu Ende ist?«
»Nicht Lucy – Maggie. Die Frau, die gestern Abend überfallen wurde«, erklärte Caleb. »Sie braucht vielleicht einen Job, der sie eine Weile über Wasser hält.«
»Hat sie Erfahrung?«
»Ich weiß nicht«, gestand er.
Er wusste einfach viel zu wenig von ihr.
»Hm.« Antonia erhob sich und raffte die Jacke zusammen. »Na, dann bringen Sie sie mal zu uns. Reggie kann mit ihr reden.«
Caleb war sich nicht sicher, ob Antonia die Anstellung einer neuen Saisonkraft dazu benutzen wollte, um ihn und Regina zusammenzubringen, oder ob es als eine Form der Bestrafung gedacht war. Antonia hatte ihrer eigenen Tochter niemals verziehen, dass sie die Insel und das Restaurant verlassen hatte. Vielleicht hatte sie ihr aber auch nicht verziehen, dass sie ledig mit einem zwei Monate alten Sohn im Gepäck wiedergekommen war. So oder so, Maggie hatte ein Vorstellungsgespräch. »Danke.«
»Danken Sie mir nicht, das ist reine Geschäftssache. Und da wir gerade davon reden – ich muss zurück in meine Küche.«
»Ich bringe Sie hinaus«, bot Caleb an.
Antonia winkte ab »Machen Sie sich nicht die Mühe. Es regnet.«
»Ich muss sowieso hinaus. Zu den Befragungen«, erinnerte er sie an sein Vorhaben.
Wenigstens würde der Regen dafür sorgen, dass die Leute zu Hause blieben und er sie antreffen würde.
»Sie werden ganz nass werden«, prophezeite Antonia unbeirrt.
Caleb schloss die Tür seines Büros ab. »Ein bisschen Regen macht mir nichts aus.«
Im Irak hatte er im Staub gelebt. In Staub und Hitze. Von Mai bis September blies der Schamal von Nordwesten und trieb Wolken aus Sand vor sich her, der durch jede Ritze in Kleidung und Kochgeschirr drang. Jeden Tag hatte er gespürt, wie seine Seele ein bisschen mehr austrocknete und Teile seiner selbst verdorrten und wie Staub verwehten. Nachts hatte er von Regen geträumt. Von Regen und Meer.
Caleb schnitt eine Grimasse, während er die Rathaustreppe hinunterging. Vierundzwanzig-Stunden-Schichten zu schieben war allerdings nicht in seinen Träumen vorgekommen. Er war zurück, nicht wahr? Er war zu Hause und tat in der Gemeinde, die zu beschützen er geschworen hatte, die Arbeit, die er gelernt hatte.
Er hoffte nur, dass das ausreichte.
Er kam nicht.
Margred fuhr sich mit den Händen über die Hüften. Das ungewohnte, elastische Kleid und die noch ungewohntere Enttäuschung fühlten sich seltsam an.
Er würde
später
kommen. Weil es
regnete.
Sie lachte ihrem Gesicht im Spiegel höhnisch entgegen. Als ob er sich in diesem bisschen Regen auflösen könnte.
»Gefällt es dir nicht?«, fragte Lucy neben ihr.
»Es« war das Kleid, das Lucy aus ihrem Schrank geholt hatte, damit Margred es anprobierte.
Margred glättete den blauen Stoff über ihren Schenkeln und inspizierte ihr Spiegelbild über der Kommode. Gestern Abend hatte sie sich Blut und Sand aus dem Haar gewaschen. Ihr Gesicht war bleich, ihre Augen sahen blutunterlaufen aus, und mitten durch die geschwollene blaurote Beule auf ihrer Stirn lief eine Linie aus hässlichen Stichen.
Aber wenn sie schon Kleidung tragen musste, schmeichelte ihr dieses Kleid natürlich mehr als das unförmige Shirt, das sie den ganzen Vormittag getragen hatte.
Sie lächelte das Mädchen an. »Es passt. In dem anderen da – diesen Jeans – sehe ich wie Haggis aus.«
Lucy hob die achtlos hingeworfene Hose vom Boden auf und legte sie zusammen. »Das liegt daran, dass ich groß und dünn bin und du … äh … du bist …«
Margreds Augen verengten sich. »Klein und dick?«, fragte sie zuckersüß.
Lucy lachte auf. »Nein! Gott, nein. Du hast nur … du weißt schon … eine weibliche Figur. Kurven. Jedenfalls siehst du umwerfend in diesem Kleid aus. Viel besser als ich.«
Sehr wahrscheinlich. Auf dem Bügel hatte das einfache, ärmellose Kleid wie ein Sack gewirkt. Vermutlich war es von Lucys hageren Schultern auch ganz ähnlich herabgehangen.
Margred betrachtete sie nachdenklich. »Du bist attraktiv. Du wirkst so … stark.«
Diesmal prustete Lucy los. »Ja, genau das wollte ich schon immer hören. Ich bin in der Schule Kurzstrecke gelaufen.«
»Aha«, kommentierte Margred, als hätte sie auch nur die leiseste Ahnung, worüber das Mädchen sprach.
Sie drehte sich wieder zum Spiegel um. Der blaue Stoff wallte über ihre Kurven wie Wasser über Felsen. Nur der elastische Bund schnitt in ihre Hüften ein und verdarb die fließende Linie. Sie griff sich unter den
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