Wellentraum
schwankenden Wäldern aus Seetang, Anemonenteppichen, Kolonien von Korallen und Schwämmen. Wer würde für eine begrenzte Spanne an Jahren über einen Bruchteil der Erdkruste kriechen, wenn er die Ozeane der Welt und Jahrhunderte der Freiheit vor sich hätte?
»Wärest du zufrieden genug …?«
Sie öffnete den Mund, aber die Antwort wollte nicht kommen. Ihre Finger nestelten an der Kette um ihren Hals.
Dylans Blick wanderte zu einem Punkt hinter ihrer Schulter. Er wurde still, in einer Art gespannter Ruhe wie eine Muräne, die Beute erspäht hat. »Hallo Bruder«, sagte er aalglatt.
Bruder, dass ich nicht lache.
Caleb zwang sich zu einem professionellen Polizistenblick auf den Dreckskerl, der Maggie bedrängte, obwohl er darauf brannte, ihm unter einem Vorwand Handschellen anzulegen und ihn auf die Wache zu schleifen. Er konnte es durchaus mit ihm aufnehmen. Der Bursche war jünger und größer – hatte also eine größere Reichweite –, aber nicht sehr schwer. Wahrscheinlich untrainiert. Unbewaffnet. Es sei denn, er hatte ein Messer in den Taschen seiner Shorts.
Caleb hatte sie beobachtet, als er über den Hügel gekommen war. Maggie stand praktisch auf den Zehenspitzen, offenbar bereit, dem Kerl ins Gesicht zu springen, während sie mit ihm sprach oder besser stritt. Die unbewusste Intimität ihrer Pose hatte Caleb getroffen. Mitten ins Herz.
Und dann holte Maggie aus und schlug den Burschen, und der Aufprall hallte von den Felsen wie ein Gewehrschuss wider.
Wenigstens hatte er nicht versucht zurückzuschlagen.
Noch nicht.
»Wer zum Teufel sind Sie?«, fragte Caleb.
Diese matten schwarzen Augen weiteten sich leicht. »Erkennst du mich nicht mehr?«
Dieser höhnische Tonfall, dieses verzerrte Lächeln kroch Caleb unter die Haut. Leiser Zweifel arbeitete sich zu seinem Herzen vor.
Er hatte früher immer geträumt, dass sein Bruder zurückkehren würde. Dass er bei einem Ballspiel auftauchen oder am Weihnachtsmorgen an der Tür klingeln oder an Calebs Krankenhausbett stehen würde, wenn er die Augen öffnete.
Aber nicht, dass er halb nackt auf der Insel erscheinen und sein Mädchen bedrohen würde.
Caleb schüttelte den Kopf. Wenn Dylan noch am Leben war, musste er jetzt – was? – sechsunddreißig oder siebenunddreißig Jahre alt sein. Dieser Kerl konnte gar nicht sein Bruder sein.
»Nein«, antwortete Caleb.
»Ich bin erschüttert.«
Caleb lächelte nicht. »Kann ich Ihre Papiere sehen, Sir?«
»Ich habe keine.« Der Bursche wies mit dem Kopf auf Maggie. »Frag sie, wer ich bin.«
»Maggie, kennst du diesen Mann?«
»Ja.« Sie hob das Kinn. Der Blick aus ihren großen dunklen Augen traf ihn wie ein Schlag in den Magen, noch härter als die Erkenntnis, dass sie ihn von Anfang an belogen, mit ihm gespielt haben musste. »Und du kennst ihn auch.«
»Der verlorene Sohn kehrt zurück«, sagte der Bastard leichthin. »War das nicht die Geschichte, die Mrs. Pruitt so mochte? Müsstest du jetzt nicht ein fettes Kalb töten oder so was?«
Caleb war gerade in der Stimmung zu töten, das stimmte schon.
Mrs. Pruitt … Gott, er hatte seit Jahren nicht mehr an sie gedacht. Jedes Kind auf der Insel hatte mindestens einmal ihre wochenlange Ferien-Bibelschule besuchen müssen.
Jedes
Kind auf der Insel, sagte sich Caleb.
Nicht nur die Hunter-Brüder.
Sein Blick wanderte von dem Kerl zu Maggie, die zwischen ihnen stand und jedes Wort aufsaugte.
»Ich werde Sie bitten müssen, mit auf die Wache zu kommen, Sir.«
»Nein«, entgegnete der Kerl.
»Warum soll er denn mit dir auf die Wache?«, fragte Maggie.
»Warum hast du ihn geschlagen?«
Sie zuckte mit den Schultern. »Er hat mich geärgert.«
»Das reicht mir. Der Jeep steht da drüben«, sagte Caleb und machte eine Handbewegung Richtung Hügel.
Vor den Felsen wirbelten die Wellen schäumend auf und ab, wie beim Schleudergang einer Waschmaschine. Caleb sah auf die Strudel und dachte:
Brandungsrückstrom.
»Du kannst mich nicht zwingen, irgendwohin zu gehen«, höhnte der Dünne.
Caleb biss die Zähne zusammen. Was war das hier – Kindergarten? Er schob eine Erinnerung an einen heulenden, schreienden Dylan beiseite, der dem Vater zu entkommen suchte.
»Du kannst mich nicht zwingen.«
»Du hast nicht die Macht dazu«, ergänzte der Mann verächtlich. »Ich habe die Macht.«
Caleb tippte sich an die Brust. »Ich habe ein Abzeichen.« Mehr als sein Zorn, mehr als seine Waffe verlieh ihm dieses Abzeichen Handlungsgewalt. »Gehen
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