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Wellentraum

Wellentraum

Titel: Wellentraum Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Virginia Kantra
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einem Felsen nieder. Er streckte sein verletztes Bein aus, wobei sein Stiefel über die kalkweiße Festung einer Muschelkolonie kratzte. Die Sonne entlockte seinem feuchten Haar goldene Glanzreflexe und tauchte sein Gesicht in Farbe. Sein Hals sah lang und leicht sonnenverbrannt aus und brachte sie fast in Versuchung, die Temperatur mit den Lippen nachzuprüfen.
    Sie setzte sich einen Meter entfernt von ihm hin – sie musste klar denken können – und breitete ihren Rock zum Trocknen aus.
    Caleb wartete. Sein Schweigen zehrte an ihren Nerven.
    Sie nahm einen losen weißen Faden in die Hand und suchte nach dem Ende. Nach dem Anfang. Es gab kaum geschriebene Texte in ihrem Volk. Ihre Geschichte wurde für jede Generation, jede Inkarnation im ewigen Lied der Wale bewahrt und weitergegeben. Wie würde es in Calebs Ohren klingen?
    Sie holte tief Atem. »Bevor – ja, bevor alles war, erhob sich der Schöpfergeist über das Angesicht der Wasser.«
    Caleb verzog den Mund. »Maggie … mit ›Beginn‹ meinte ich nicht den Beginn der Genesis.«
    »Was ist die Genesis?«
    Sein Gesicht wurde wieder verschlossen. »Egal. Weiter.«
    Margred biss sich ärgerlich auf die Lippen. In vergangenen Jahrhunderten, als die Mer sich den Söhnen und Töchtern der Menschen zeigten, begegnete man ihnen mit Scheu und Ehrfurcht, Wollust und Furcht. Margred erwartete keine Ehrfurcht von Caleb; doch ebenso wenig war sie darauf vorbereitet, dass er sie mit demselben Blick studierte, mit dem ein Wissenschaftler eine neue Lebensform aus dem Meer begutachten würde.
    Es war leichter, fand sie, wenn sie ihn gar nicht ansah. »Aus der Leere formte Er die Elemente. Und als jedes Element Gestalt angenommen hatte, entstand auch sein Volk – die Kinder der Erde und der See, der Luft und des Feuers.«
    »Volk«, wiederholte Caleb. »Meinst du etwa Adam und Eva?«
    Sie schüttelte den Kopf. »Die Menschheit kam später. Viel später, lange nachdem das Leben aus dem Meer an Land gekrochen war. Aber dann hauchte der Schöpfer Seinen unsterblichen Atem dem sterblichen Lehm ein. Viele Elemente nahmen Ihm diese neue Schöpfung übel – vor allem die Kinder des Feuers. Die Kinder der Luft verteidigten die Entscheidung des Schöpfers und bestellten sich selbst zu Boten und Beschützern der Menschheit. Während die Kinder der Erde und der See, die gezwungen waren, mit euch zusammenzuleben, beschlossen, euch zu meiden, soweit es ging.« Margred zuckte mit den Schultern. »Manchmal ist das allerdings nicht möglich. Und dann werden Legenden – oder Kinder – geboren. Deine eigene Mutter …«
    »Nein«, sagte Caleb.
    »Deine Mutter ist aus dem Meer zu deinem Vater gekommen.« Nun wagte es Margred wieder, ihn anzusehen. »Wie ich zu dir gekommen bin.«
    Seine Augen waren Splitter aus grünem Eis. »Du willst mir erzählen, dass meine Mutter, Alice Hunter …«
    »Atargatis.«
    »Und ihr seid … Meerjungfrauen?« Seine Stimme brach vor Fassungslosigkeit.
    Margred nickte. »Na ja, keine richtigen Meerjungfrauen. Selkies.«
    »Und was ist der Unterschied?«
    »Die Mer können verschiedene Gestalten annehmen. Fische oder Säugetiere oder …«
    »Beweis es mir.«
    »Wie bitte?«
    »Verwandle dich in … in was verwandelst du dich normalerweise?«
    Sie erstarrte bei seinem Tonfall. »In einen Seehund.«
    »Okay. Verwandle dich in einen Seehund.«
    Sie rang um Geduld. Er wollte Tatsachen hören, hatte er gesagt. Beweise. Das war seine Natur, die Natur seines Jobs.
    Ihre Natur war es hingegen nicht, sich zu rechtfertigen oder zu erklären. Aber um seiner willen …
    »Ich kann nicht«, gestand sie widerstrebend. »Beim letzten Mal, als ich an Land geschwommen bin – in der Nacht des Überfalls –, wurde mir mein Fell gestohlen. Ich kann mich nicht ohne mein Fell verwandeln.«
    Er hob die Augenbrauen. »Wie praktisch.«
    »Nicht für mich«, blaffte sie. »Und wahrscheinlich auch nicht für deine Mutter.«
    »Lass meine Mutter aus dem Spiel.«
    »Das würde ich selbst dann nicht, wenn ich könnte.« Über die Beschränkungen ihres Volkes hinaus getrieben von dem Bedürfnis, ihn zu überzeugen, legte ihm Margred die Hand auf den Arm. Sein Ärmel war steif und verklebt vom Salz, seine Muskeln fühlten sich eisenhart an. »Das Meer ist dein Erbe, Caleb.«
    »Vielleicht«, sagte er trocken. »Aber ich verwandle mich nicht in einen Seehund und belle den Vollmond an.«
    Getroffen zog sie die Hand zurück. Dummer Junge. »Der Mond hat damit nichts zu tun.

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