Wellenzauber
Blumen dufteten, laue Nächte mit dem sanften Geräusch der Brandungswellen als Schlaflied.
Sardinien.
Unwillig wischte sie sich über die Stirn, um das Bild zu vertreiben. Das war nun wirklich der letzte Ort, an den siereisen wollte, und es gab eine Menge anderer schöner Urlaubsziele. Da würde ihr schon etwas einfallen. Sie kramte in ihrem Rucksack nach dem Autoschlüssel und sagte dann zu Kerstin: »Manchmal kannst du richtig gute Ideen haben. Ich verreise, und in der Zwischenzeit wird der dumme Florian zur Vernunft kommen.«
»Ja, hoffentlich«, gab Kerstin zurück, doch Sina hörte genau den zweifelnden Ton in ihrer Stimme. »Aber warum sollte er ein Auge auf mich werfen, nur weil du weg bist? Es gibt massenweise Frauen auf der Welt, die hundert Mal hübscher und vor allem tausend Mal schlanker sind als ich.«
Sina nahm die Freundin kurz in den Arm und drückte sie leicht. »Etwas Besseres als eine Frau wie dich könnte Florian gar nicht passieren. Das wird er irgendwann begreifen. Du wirst schon sehen.«
»Hoffentlich«, sagte Kerstin wieder, schien jedoch kein bisschen überzeugt. Die Freundinnen fuhren in entgegengesetzte Richtungen davon. Der Nieselregen ging in einen heftigen Schauer über. Sina schaltete die Scheibenwischer auf höchste Stufe und wünschte sich weit fort, irgendwohin, wo die Sonne schien.
5. Kapitel
Es war ein warmer Sommerabend auf Sardinien, aber der leichte Westwind, der wie so oft nach Sonnenuntergang aufgekommen war, brachte nach der Hitze des Tages ein wenig Abkühlung. In Olbia wie anderswo auf der Insel nutzten Touristen und Einheimische das schöne Wetter für einen Spaziergang. Eine Weile sah Dottore Federico Bergmann schweigend den Menschen zu, die auf der Hafenpromenade entlangschlenderten. Junge und alte Paare, Familien mit Kindern, die auf Skatern oder Fahrrädern vorneweg fuhren und — nein. Federico beobachtete die Menge einen Moment genauer. Tatsächlich, niemand ging hier allein am Meer entlang. Das fand er merkwürdig. Es gab doch angeblich so viele Singles, und er selbst würde in spätestens einer Stunde auch wieder dazugehören. Wo waren die alle? Verkrochen sie sich in ihre Wohnungen oder Hotelzimmer, aus Angst, inmitten der vielen glücklichen Paare unangenehm aufzufallen?
Unsinn.
Federico atmete tief durch und bestellte sich dann beim Kellner ein Glas eisgekühlten Mirto bianco. Dieser trockene, aus den Blättern und Blüten der Myrte hergestellte Likör würde ihm direkt in die Blutbahn schießen, und das kam ihm gerade recht. Normalerweise trank er nur selten Alkohol, aber heute war eben kein normaler Abend.
Er sah auf die Uhr. Halb neun. Lorella war spät dran, wieimmer. Während der Arbeitszeit war seine Sprechstundenhilfe zuverlässig und gewissenhaft — ganz die korrekte Tochter eines englischen Offiziers. Privat jedoch kam sie mehr nach ihrer italienischen Mutter. Als seine Freundin war sie temperamentvoll, aufbrausend und chronisch unpünktlich. Er fand das oft aufregend, aber genauso oft anstrengend. Und sie stritten sich gern über das Thema.
»Auch meine Mutter stammt von Sardinien«, sagte Federico dann. »Das heißt aber nicht, dass ich mir ein italienisches Temperament aneignen muss.«
»Du bist ja auch ein Mann«, erwiderte Lorella gern, als sei damit alles erklärt. Worauf ihm nie ein passendes Gegenargument einfiel.
Federico nahm einen Schluck von seinem Likör und suchte in der vorbeiziehenden Menschenmenge nach Lorellas hoher Gestalt.
Endlich sah er sie, und so sofort kroch die Wut wieder in ihm hoch. Seit er ihr falsches Spiel entdeckt hatte, konnte er sich kaum beherrschen. Und doch hatte er bis heute Abend gewartet. Ein ruhiges Gespräch war das Mindeste, das er ihrer gemeinsamen Zeit schuldete.
Lorella hatte ihr blondes Haar hochgesteckt und trug ein eng anliegendes schwarzes Kleid. Bewundernde Blicke folgten ihr, und sie war sich ihrer Schönheit voll bewusst. Ein paar Hafenarbeiter auf dem Weg nach Hause blieben stehen, pfiffen ihr nach und riefen: »Ciao Bellezza!«
Lorella lachte, aber ihre dunklen Augen suchten Federico und leuchteten auf, als sie ihn fanden.
Sie hat wirklich keine Ahnung, dachte er. Für sie war dies ein ganz normales romantisches Essen im neuen Fischrestaurant an der Hafenmole. Schon zweimal hatten sie das Essen verschieben müssen, beide Male waren Babysdazwischengekommen, die es besonders eilig hatten. Nun sollte es endlich klappen.
»Du hast einen Tisch draußen erwischt«, sagte Lorella
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