Wellenzauber
belegte?
Sina fühlte sich hilflos. Sie wollte niemandem wehtun, aber sie fragte sich auch, ob Florian sich überhaupt je für Kerstin interessieren würde. Er konnte doch wirklich jede Frau haben. Und erst vor einer Stunde hatte er Sina auf dem Stationsflur abgepasst und wollte sie zum Mittagessen einladen. Sina hatte abgelehnt. Florian war ihr mit einem schnellen Schritt sehr nahe gekommen, und fast hatte sie befürchtet, er wollte sie küssen. Sie konnte den herben Duft seines Rasierwassers riechen, und tausend unsichtbare Ameisen krabbelten über ihre Haut. Es war so lange her, dass sie zuletzt geküsst worden war. Drei, nein, vier Jahre. Damals hatte sie den ernsthaften Versuch unternommen, mit Philipp, einem Krankenpfleger, eine Beziehung aufzubauen. Sie scheiterte kläglich, und nach einigen Monaten musste sie Philipp erklären: »Ich liebe dich nicht.«
»Warum?«, hatte er verletzt gefragt. »Gibt es einen anderen?«
»Nein.« Aber das war nur die halbe Wahrheit gewesen. Sie konnte ihm doch unmöglich sagen, dass sich ihre Gedanken immer noch um einen Mann drehten, den sie seit ihrem sechzehnten Lebensjahr nicht mehr gesehen hatte.
Als Florian schon ganz nah war, kam Kerstin aus einem Krankenzimmer, und der Ausdruck ihrer Augen wechselte rasch von Freude über Erstaunen bis zu maßloser Enttäuschung. Sie sagte nichts, sondern verschwand schnell wieder, aber Sina fühlte sich plötzlich, als hätte sie einen schweren Betrug begangen. Sie stieß Florian von sich weg, ging Kerstin nach und bat sie, mit ihr in die Cafeteria zu kommen, damit sie sich aussprechen konnten.
»Florian bedeutet dir also nichts?«, fragte Kerstin jetzt misstrauisch. »Bist du dir da sicher? Ich hatte vorhin einen anderen Eindruck. Ihr ward kurz davor, euch leidenschaftlich in die Arme zu fallen.«
Sina holte tief Luft. »Quatsch! Ich weiß doch auch nicht, was plötzlich mit ihm los ist. Bis vor zwei oder drei Wochen hat er sich ganz normal benommen, Und nun stellt er mir nach. Was soll ich bloß machen? Meinst du, es würde helfen, mal ernsthaft mit ihm zu reden?«
Immerhin, sie erreichte, dass die Freundin sich entspannte. Mit neuem Appetit säbelte Kerstin das Würstchen in ihrer Suppe klein und aß in Windeseile ihren Teller leer. Dann trank sie in langsamen Schlucken ihren Fruchtsaft und dachte mit gerunzelter Stirn angestrengt nach.
»Das ist keine gute Idee«, sagte sie endlich. »Wenn du Florian um ein Gespräch bittest, denkt er doch erst recht, du wärst an ihm interessiert. Du musst ihn einfach ignorieren.«
Sina seufzte. »Wenn das nur so einfach wäre. Ich habe den Verdacht, er richtet seinen eigenen Dienstplan schon nach meinem aus. Was findet er bloß an mir?« Sie griff über den Tisch nach der Hand der Freundin. »Ich bin nun wirklich keine besondere Schönheit. Außerdem müsste er doch merken, dass mein Herz …« Sie brach ab. Fast hätte sie gesagt: dass mein Herz nicht frei ist. Aber das war Unsinn. Niemalswürde sie Federico verzeihen können. Falls sie überhaupt noch etwas für ihn empfand, so war das Hass.
»Irrtum.« Kerstins Stimme nahm einen traurigen Klang an. »Du bist wunderschön, Sina. So zart und geheimnisvoll wie eine Elfe. Ganz im Gegensatz zu mir.«
Auf einmal musste Sina kichern. Kerstin zögerte, dann lachte sie laut heraus, und schon mussten sich beide die Lachtränen aus den Augen wischen. Es dauerte lange, bis sie sich wieder beruhigt hatten, und dann war es Zeit, zurück auf Station zu gehen.
Die Harmonie zwischen ihnen war wiederhergestellt, doch Sina hatte ein schlechtes Gewissen. Sie nahm sich vor, einmal mit Florian zu reden. Sie musste herausfinden, ob er etwas für sie empfand, und sie musste ihre eigenen Gefühle besser verstehen.
Aber in den nächsten Stunden ging es hektisch zu auf der Entbindungsstation. Eine vierfache Mutter türkischer Abstammung wurde eingeliefert, und sie brachte innerhalb von einer halben Stunde einen gesunden Jungen zur Welt. Daraufhin veranstaltete die Großfamilie auf dem Flur ein spontanes Fest, war doch nach vier Töchtern endlich ein Stammhalter geboren. Sina und Kerstin wurden eingeladen, mitzufeiern, aber sie schüttelten den Kopf und mussten schließlich den Sicherheitsdienst rufen, damit alle bis auf den Vater freundlich herausgeschafft wurden.
In der Zwischenzeit spitzte sich die Situation bei einer Erstgebärenden zu. Sabrina Wiet war fünfunddreißig Jahre alt und gehörte zu der immer größer werdenden Gruppe von Frauen, die erst
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