Weller
Zeichen dafür war, dass ich mich ein wenig entspannte oder ob er eine eher überdrehte, hysterische Komponente besaß.
Holter trank sein Bier an und wischte sich den Schaum von der Oberlippe. »Schön, mal wieder Touris observieren und unseren nächsten Segeltörn bekakeln, nech, mien Jung?« Er verfiel gern in plattdeutschen Slang, wenn er, als immerhin vier Jahre Älterer, den Oberlehrer herauskehren wollte.
»Mach es nicht so spannend, Dietmar. Was hast du für mich?« Ich hatte ihm schon am Telefon angedeutet, was mich beschäftigte und um seine Hilfe gebeten.
Holter zückte sein Smartphone mit dem übertriebenen Stolz desjenigen, der als alternder Mann nicht zu den Digital Natives gehörte, aber alles tat, um den Abstand zu den jungen Technikklugscheißern nicht zu groß erscheinen zu lassen.
»Nu kiek dir das mol an.« Er tippte und wischte über die Plastikoberfläche des Geräts. »Das haben die Kollegen aus der Überwachungskamera des Drogeriemarkts, in dem dieser Knabe die Foto-CD gefunden haben will.« Ich beugte mich über das Display, starrte auf die verwaschenen, leicht verzerrten Aufnahmen. Ein großer Mann mit Baseballkappe und in Dreiviertelhosen trat an einen dieser Sofortbildautomaten, tat eine Weile lang nichts Erkennbares, tippte dann mehrmals mit dem Zeigefinger auf dessen Bildschirm und beugte sich hinunter, um eine CD in den Einschubschlitz zu stecken. Er war während der ganzen Zeit nur von hinten zu sehen. Das einzig Auffällige an ihm waren die Holzclogs, die er an den Füßen trug und die breitflächigen Tätowierungen an beiden Waden. Deren Motive waren jedoch, aufgrund der schlechten Qualität des Videos, nicht zu erkennen.
»Das ist vierzehn Minuten, bevor dieser Kraus die CD dort im Automaten gefunden hat.« Holter beugte sich so dicht zu mir, dass ich seine zu lange nicht gewaschenen Haare roch.
»Und nun pass auf.« Der Tätowierte war mit dem Automaten beschäftigt, nahm die ausgedruckten Fotos heraus. Da trat ein zweiter Mann ins Bild, beide begrüßten sich mit Handschlag und begannen, sich angeregt miteinander zu unterhalten, während der erste weitere Fotos aus dem Automaten zog. Auch das Gesicht des zweiten Mannes war, unter seinem Basecap, nicht zu identifizieren. Dann waren beide Männer lediglich von hinten zu sehen. Schließlich gingen beide zusammen zur linken Seite aus dem Bild heraus. Ende der Aufzeichnung. Ein zweiter Filmausschnitt zeigte Kraus, wie er am Automaten beinahe vorbeischlenderte, stutzte, sich in einer Pantomime des Verheimlichens und der Verschleierung der CD bemächtigte.
»Er war es tatsächlich nicht. Seine Geschichte stimmt.« Holter steckte das Smartphone in die Tasche und lächelte der Serviererin zu, die unsere Teller vor uns auf den Tisch stellte. »Die Kollegen haben natürlich sofort überprüft, ob der Fotokunde mit einer EC-Karte bezahlt hat – Fehlanzeige.« Er griff zu Messer und Gabel und begann, seinen Matjes zu zerkleinern. Mit vollem Mund erzählte er weiter. »Es gibt noch eine Aufnahme, circa zwanzig Minuten später. Auf der kommt der erste Typ wieder und sucht seine CD. Aber auch da ist er wieder nur von hinten zu sehen. Die Kassiererin, die an jenem Tag Dienst hatte, erinnert sich sogar daran, dass ein Mann sie befragt hat, ob eine Foto-CD abgegeben worden ist. Nur an das Aussehen des Betreffenden kann sie sich partout nicht mehr erinnern.«
Wir aßen eine Weile schweigend. Ich überlegte, ob ich in dem Filmchen gerade meinen Klienten Zorn gesehen hatte. Doch konnte ich es nicht mit Bestimmtheit sagen, wusste nicht, ob er an den Beinen tätowiert war. Ich könnte ihn bei Gelegenheit fragen, wo er seine Fotoabzüge machen ließ.
»Und wie hält sich Zorn? Was hast du für einen Eindruck von ihm?« Holter kannte die Aktenlage, war Zorn aber bis heute noch nicht einmal begegnet. Was im Grunde ein gutes Zeichen war, denn wenn er Kontakt zu einem unsere Bewährungsklienten aufnahm, ging es schließlich immer um deren Verstöße gegen die Bewährungsauflagen des Gerichts.
Meine Antwort war ehrlich – zu ehrlich. Noch heute ist sie mir als das, was sie repräsentierte, peinlich. Das schnell dahin gesagte ›Er verkraftet es schlecht; ich glaube, er säuft wieder‹ war nichts anderes als die Anbahnung dessen, was ich zwar noch längst nicht bewusst entschieden hatte, was aber wohl in meinem Unterbewussten schon deutliche Formen annahm: die Aufgabe meiner Prinzipien, das Fallenlassen eines meiner Jungs , mein
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