Weller
Bürger. ›Wir wollen den Politikern und der Stadtverwaltung zeigen, dass wir mit der Unterbringung des Straftäters hier am Friedenshof nicht einverstanden sind‹, wurde eine Rentnerin zitiert. Mulmige Gefühle bei jungen Müttern, handfeste Drohungen bei testosteronstrotzenden Jugendlichen, Umsatzsorgen bei ansässigen Filialleitern. Dazu ein Stadtvertreter, der um Verständnis warb und gleichzeitig die Sorgen der Anwohner ›sehr ernst‹ nahm.
Ich faltete den Artikel zusammen und gab ihn zurück.
»Und was nun?« Ich mochte es mir kaum eingestehen, doch mein Misstrauen ihm gegenüber vergiftete unsere Beziehung. Ich wusste nicht mehr, wie ich ihm begegnen sollte, war unsicher bei jedem Wort, das ich an ihn richtete. Möglicherweise war er derjenige, der Ellen heimlich fotografiert hatte. An die Möglichkeit, er hätte der Studentin Marlen Hausmann die Säure ins Gesicht geschüttet und sie erschlagen, mochte ich überhaupt nicht denken.
»Ich denke daran, wegzuziehen.«
Vielleicht wäre das für uns alle das Beste, war meine erste Reaktion. Wenn ich, als sein Bewährungshelfer, dem Wohnsitzwechsel zustimmte, stünde dem nichts entgegen. Dennoch spielte ich den Bedenkenträger. »So etwas kann dir an jedem anderen Ort auch passieren, Wolfgang. Denk an die Aufregung wegen dieser entlassenen Sicherungsverwahrten. Da protestieren halbe Dörfer und in Großstädten ganze Wohnviertel gegen deren Zuzug.«
Zorn zuckte mit den hängenden Schultern. »Hast du eine bessere Idee? Hier wird bald jeder mein Gesicht kennen, auch wenn es zum Glück bisher noch nicht in der Zeitung abgebildet gewesen ist. Ich traue mich ohne dunkle Brille und Kappe schon jetzt nicht mehr aus dem Haus.«
Er deutete auf besagtes Ensemble, das auf dem Tisch zwischen uns lag.
Als Zorn, der sich das Wichtigste immer für den Schluss unseres Gesprächs aufsparte, am Ende von einer Vorladung in das Schweriner Polizeipräsidium berichtete, die er gerade erhalten hatte, schürte dies meine Ambivalenz, trieb meine Zweifel ihm gegenüber in die Höhe. Also hatten sie ihn noch immer im Visier. Dafür musste es einen mehr oder weniger handfesten Grund geben.
Nach keinem meiner jemals geführten Klientengespräche war ich so erleichtert wie an diesem Tag, als Zorn sich endlich verabschiedete und mich mit meinem Misstrauen gegen ihn allein ließ. Ich war ihm damals wirklich keine Hilfe und hatte mich als Bewährungshelfer nie zuvor dermaßen untauglich gefühlt.
***
Es vergingen wieder zwei Wochen, in denen sich wenig mehr tat als zwei weitere der unsäglichen Montagsdemos, denen ich fernblieb, ein zähes Klientengespräch mit Wolfgang Zorn, eine Gruppenstunde meines Anti-Gewalttrainings, in der er entschuldigt fehlte, und das übliche Alltagsgeschehen in der Bewährungshilfe, das durch die Krankmeldung von Frau Sänger – des guten Geistes unserer Geschäftsstelle – verkompliziert wurde. So kam auch noch die lästige Büroarbeit – vom Schreibdienst über die Terminvergabe bis zum Auffüllen des Kaffeevorrats – auf mich und meine drei Kollegen zu. Aus der Presseberichterstattung war der Mord an der Studentin verschwunden und auch von anderer Seite erfuhr ich keine Neuigkeiten zum Ermittlungsstand. Nach wie vor beherrschte mich die Sorge um Ellen, die Angst, dieser unheimliche Spanner könne weiter um unser Haus schleichen, sein Teleobjektiv begehrlich auf unsere Fenster richten und sich möglicherweise irgendwann entscheiden, dass ihm dies nicht mehr genügte und er die Distanz zu Ellen verringern musste. Am schrecklichsten war, dass ich mit ihr inzwischen nicht mehr über meine Ängste sprechen konnte. Vor drei Tagen, als ich sie gebeten hatte, sich nicht im Bikinioberteil bei uns im Garten zu sonnen, war sie ernsthaft ärgerlich geworden.
»Weißt du, was das Schlimmste ist«, hatte sie mich angefaucht, ›nicht deine übertriebenen Vorsichtsmaßregeln, deine Grübelei, die Stubenhockerei, zu der du uns verdonnerst. Nein, das Schlimmste ist, dass du dich selbst dermaßen verrückt machst und völlig paranoid geworden bist.« Sie war aus dem Liegestuhl aufgesprungen und zeigte auf die mit Efeu überwachsene Pergola, die sie tatsächlich weitgehend vor Blicken schützte. »Meinst du nicht, dass, wenn überhaupt, ich mich sorgen sollte? Mir überlegen, wie ich mich schützen kann? Du bist mir keine Hilfe, Weller. Du machst alles noch schlimmer.« Sie hatte mich auf der Terrasse stehen gelassen und war ins Haus gestürmt. Mir war zumute
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