Weller
paranoid zu werden. »Gehst du noch fotografieren heute?« Ich deutete auf seine Tasche.
»Mal sehen«, antwortete er maulfaul. Doch es genügte, um den Alkohol zu riechen. Also Thema Suchtberatung beim nächsten Termin, notierte ich im Geist.
»Und wohin soll es gehen? In die Natur?«
»Weller, lass den Smalltalk. Wir sehen uns nächste Woche Dienstag. Bis dann.« Er nahm Jacke und Tasche und stieg die Stufen vom Bouleplateau hinunter. Ich merkte, dass ich das Atmen vergessen hatte und ließ locker. Zorn würde sich niemals selbst verraten, dazu war er viel zu clever.
***
Ich hatte niemandem davon erzählt, war es mir doch selbst unangenehm, wie ich mir anmaßte, Detektiv zu spielen. Dennoch hatte ich – oder besser: irgendein wahnwitziger, vielleicht auch nur aus Angst mutiger Teil von mir – beschlossen, dem Spannerfotografen auf die Spur zu kommen. Sei es Zorn, sei es ein Fremder, der diese perfiden Aufnahmen gemacht hatte. Also trieb ich mich, so oft ich es ermöglichen konnte, im kleinen Einkaufszentrum am Burgwall herum, behielt den Drogeriemarkt und insbesondere den dortigen Fotoautomaten im Blick und erfuhr am eigenen Leib, wie tödlich gelangweilt und fußschmerzgeplagt ein professioneller Ladendetektiv sein musste. Ob die Kripo auf dieselbe Idee gekommen war, erschloss sich mir in den folgenden Tagen und Wochen nicht. Jedenfalls fiel mir niemand auf, der sich ähnlich häufig wie ich hier herumtrieb. Das Überwachungsvideo hatte den Tätowierten an einem Montag um 17:20 Uhr aufgenommen. Davon ausgehend, dass der Mensch – also auch der Spanner – generell ein Gewohnheitstier ist, hatte ich eine passable Chance, während meiner Patrouillen nach Dienstschluss irgendwann auf ihn zu stoßen. Zwei bis drei Mal pro Woche leistete ich mir den Ausflug zwischen die Shampoo-, Putzmittel- und Tiernahrungsregale, hoffte dabei, dem Personal nicht unangenehm aufzufallen und begann im Laufe der Zeit tatsächlich, mich für die Inhaltsstoffe von Deodorants und Müsliriegeln zu interessieren. Mit einem Auge immer auf dem Fotoautomaten und den anderen Kunden, versteht sich. Nach einer sich in die Ewigkeit dehnenden Stunde gab ich meist auf, kaufte irgendetwas – wobei mir selten etwas Nützlicheres einfiel als Toilettenpapier – und verließ den Laden. Immerhin hatte ich insofern Glück, dass mich niemand vom Ladenpersonal auf meine ungewöhnlich langen Aufenthalte ansprach. Das Geschäftsmodell fußte hier anscheinend im Wesentlichen auf den üblicherweise schlecht bezahlten Aushilfsjobs, sodass die Beschäftigten nur für ein paar Stunden täglich und auch nicht an allen Wochentagen eingesetzt wurden. Acht verschiedene Frauen hatte ich während meiner Observationen schon im Laden erlebt.
Heute saß die kesse Blonde mit dem Puppengesicht an der Kasse und bedachte beinahe jeden Kunden mit einer persönlichen Bemerkung. Mal scherzhaft, mal einfach nur freundlich. Im Stillen fragte ich mich, weshalb eine junge Frau wie sie ihr kommunikatives Talent in dieser Drogeriefiliale ver-schwendete. Dabei wirkte sie nicht so, als wären ihre Zeugnisnoten für eine anspruchsvollere Tätigkeit zu schlecht. Eine Weile sinnierte ich über die verschlungenen Pfade des Schicksals nach. Mit Anfang Zwanzig hatte ich auch noch von einer Karriere als Filmregisseur in Hollywood geträumt. Keine zehn Jahre später war ich dann amtlich bestellter Bewährungshelfer.
Ich lungerte an diesem Tag seit einer Viertelstunde zwischen Küchenpapier und Haushaltsreinigern herum, da sah ich, wie die Kassiererin mich zu sich herüberwinkte. Ich schaute mich um, signalisierte ihr gestisch ›Meinen Sie wirklich mich?‹ Als sie nickte, setzte ich mich zögernd in Bewegung. Würde sie mich jetzt des Ladens verweisen? Was hatte ich als Erklärung für mein absonderliches Verhalten zu bieten? Sollte ich offen zu ihr sein? Ich lief an den Stirnseiten der Regale entlang, bemüht, nicht wie ein ertappter Sünder zu wirken. Sie lächelte mich an und als ich, das Warenlaufband zwischen uns, vor ihr stand, beugte sie sich zu mir herüber. Ich roch ihr Parfüm – etwas Blumiges – und eine Spur Pfefferminzkaugummi.
»Machen Sie das zum ersten Mal?« Sie deutete mit dem Heben ihres Kinns auf die Ladenfläche.
»Na ja, eigentlich schon«, stammelte ich blöde.
»Dann sage ich Ihnen jetzt mal etwas. Das bleibt aber unter uns, ja?«
»Natürlich, Frau Struck.« Ich hatte das Namensschild an ihrem Polohemd entziffert: Karin Struck.
»Hier im Team
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