Wells, ich will dich nicht töten
Beamten dazu zu sagen haben.«
Auch die Zunge. Dann war es tatsächlich ein und derselbe Killer. Ich zermarterte mir das Hirn und suchte nach einer Erklärung, doch mir wollte nichts einfallen. Was übersah ich? Wir brauchten ein weiteres Opfer, und zwar bald, damit wir das nächste Teil des Puzzles in die Hand bekamen.
»Alles in Ordnung, John?«
Marci beobachtete mich mit gerunzelter Stirn. Sie machte sich Sorgen. Wie schlimm sah ich wohl aus?
»Wahrscheinlich ist ihm der Fall auf den Magen geschlagen«, meinte ihr Dad, worauf Marci schnaubte.
»John schlägt überhaupt nichts auf den Magen«, erwiderte sie. »Dagegen finde ich manche Einzelheiten widerlich. Er denkt sicher nur darüber nach, dass die Übeltäter nicht davonkommen dürfen.« Sie sah mir in die Augen. »Wir werden es nicht schaffen, oder?«
»Was schafft ihr nicht?«, fragte ihr Vater.
»Wir wollten vorhersagen, wer das nächste Opfer ist«, erklärte sie, »damit wir es warnen können. Jetzt bleiben uns nur noch wenige Tage, und die neuen Hinweise verändern alles. Das wirft uns zurück.«
Ich war empört darüber, dass ich mich geirrt hatte, und sie dachte, ich würde mir Sorgen um das Opfer machen, das wir vielleicht nicht mehr retten konnten. Ich brauchte dringend einen weiteren Mord, und sie hielt mich für einen guten Menschen.
Genau wie Brooke, bevor sie die Wahrheit erkannt hatte.
Ich war ein Killer. Schon als ich Niemand angerufen hatte, war mir bewusst gewesen, dass sie nach Clayton County kommen und Menschen töten würde. Ich hatte die Gefahr in Kauf genommen, weil ich sie nur auf diese Weise aufzuspüren hoffte. Ich folgte den Leichen, als wären sie blutige Fußabdrücke, und am Ende beförderte auch ich jemanden vom Leben zum Tod. Ich hatte zwei Männer getötet – zwei Dämonen –, aber wie viele Leichen hatte ich im Kielwasser zurückgelassen? Wie viele Menschen waren gestorben, damit ich als Retter gelten konnte?
War ich überhaupt ein Retter? Oder doch nur irgendein Killer?
»Geht es wieder?«, fragte Officer Jensen.
Ich hob den Kopf, zuckte mit den Achseln und nickte. »Ja, alles in Ordnung.«
»Wahrscheinlich liegt es an Moms Brot«, meinte Marci und lachte nicht ganz überzeugend. »Heute haben wir sogar Sechskorn.«
»Sechs.« Er pfiff durch die Zähne. »Kein Wunder, dass du so mitgenommen aussiehst. Ich komme ja kaum mit vieren zurecht. Aber wehe, du verrätst ihr das.«
Er stieg zwischen uns auf die Veranda herauf und wollte gerade die Tür öffnen, als Marci ihn noch einmal aufhielt.
»Hör mal, Dad …«
»Ja, meine Kleine?«
Wieder warf Marci mir einen raschen Blick zu, doch irgendetwas hatte sich verändert. Vorher hatte sie schuldbewusst gewirkt, weil sie ihm unser Geheimnis verraten hatte. Jetzt war der Blick eher forschend und … irgendwie nervös. Sie wandte sich zu ihrem Vater um.
»Hast du etwas über diesen Lehrer herausgefunden, von dem ich dir erzählt habe?«
»Mr Coleman?«
»Ja, der mich die ganze Zeit so anglotzt.«
Dann hatte sie doch mit jemandem darüber gesprochen. Gut so.
»Natürlich habe ich etwas unternommen, Liebes. Ich dachte, du hättest es schon gehört.«
»Was denn?«
Er blickte zuerst sie und dann mich an, als sei er überrascht, dass wir noch nicht im Bilde waren. Als er weitersprach, wurde sein Blick hart.
»Die stellvertretende Schulleiterin sah sich in seinem Klassenzimmer um, nachdem ich ihr von deinem Anliegen erzählt hatte. Wie sich herausstellte, hatte Mr Coleman Pornografie auf seinem Computer, überwiegend sogar mit minderjährigen Jungen und Mädchen. Er wurde heute Morgen entlassen.«
ZEHN
Vier Tage später, am Mittwochmorgen, wurde Mr Coleman tot aufgefunden. Die Hände waren abgetrennt, die Zunge war herausgeschnitten worden. Das kam unerwartet, denn die bisherigen Verbrechen und unsere Täterprofile hatten nicht darauf hingewiesen, dass jemand wie Mr Coleman das nächste Opfer wäre. Die beiden ersten Opfer waren ältere Männer und Familienväter gewesen, Ende fünfzig bis Anfang sechzig, die gut verdienten und in der Gemeinde ein hohes Ansehen genossen hatten. Coleman dagegen war zwischen dreißig und vierzig gewesen, alleinstehend und ein Außenseiter in der Gemeinde. Alle hatten ihn gehasst.
Natürlich war damit zu rechnen, dass hin und wieder weithin unbeliebte Menschen ermordet wurden, doch Serienkiller wählten ihre Opfer nach völlig anderen Kriterien aus. Welche Voraussetzungen hatten diesen Mann in die Schusslinie des
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