Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg
bewegten, standen seine Gedanken nicht still. Der Hengst, den er verloren hatte, war sicher 1000 oder 1500 Dollar wert; davon lebte ein arbeitsloser Indianer auf der Reservation drei bis vier Jahre. Wer sollte dieses Tier wieder einfangen, wenn es sich nicht fangen lassen wollte? Es war klug und reagierte schnell. Weiden gab es über Hunderte von Meilen. Wenn es nicht mehr verfolgt und gescheucht wurde, fand es aber vielleicht auch selbst zu der gewohnten Herde und der Koppel auf der King-Ranch zurück. Vielleicht.
Und wenn nicht?
Man mußte sich mit den Mac Leans verständigen.
Aber wie?
Jerome war schwer zumute. Er maß sich selbst die Schuld zu, daß der Hengst entkommen war. Hätte er das Pferd Tatokala gegeben!
Er mußte irgend etwas tun, um seinen Fehler auszugleichen und das Pferd wieder herbeizuschaffen. Konnte nicht er selbst mit dem alten Mac Lean sprechen? Jeromes Eltern waren bei den weißen Männern angestellt, der Vater als Gärtner der Agentur, die Mutter als Köchin und Hausmädchen bei dem Ehepaar Haverman. Obgleich sich beide nie mit den Ungerechtigkeiten abfinden wollten, die ihr Volk erdulden mußten, hatten sie persönlich doch keinerlei besondere Schwierigkeiten gehabt. Seit Jahren hatten sie Arbeit, verdienten, was sie für ihre bescheidenen Bedürfnisse brauchten, und ihre Kinder brachten gute Zensuren aus der Schule nach Hause. Jerome selbst war in seiner Ferienzeit, in der er bei Whirlwind gearbeitet hatte, Mac Lean einmal vorgestellt worden. Wenn Jerome jetzt offen, unbewaffnet, mit erhobenen Händen zu den Mac Leans hinüberging, um die Sache vorzutragen, konnte der Nachbarrancher ihn dann erschießen? Das konnte er doch wohl nicht. Durch seine Waffenlosigkeit würde Jerome die Mac Leans entwaffnen. Die Männer von der King- und von der Mac Lean-Ranch sollten sich zusammentun, um den Hengst wieder einzufangen.
Wenn Jerome die Feindschaft der Nachbarn durchbrach, ehe es einen blutigen Streit gab, war das nicht eine große Tat?
Während der Zwanzigjährige, zu solchen Gedanken getrieben, Fuß vor Fuß setzte und infolge seiner leichten Gehirnerschütterung doch nur langsam vorankam, konnte auf der King-Ranch noch niemand ahnen, was geschehen war. Mit Ausnahme Joes und der drei jüngsten Kinder hatte sich alles im großen Zelt versammelt. Auch Julia Tatokala nahm sich dazu Zeit. Das Trinkwasser konnte sie noch des Abends zu Melittas Haus bringen; vorher, so dachte sie, würden sich Melitta, Gerald und Jerome doch nicht dort einfinden. Ihr aber machte es ebenso wie Queenie Tashina und Cora Magasapa Freude, am Unterricht teilzunehmen, den Hugh Wasescha gab. Heute standen die Fächer Rechnen und Geographie im Mittelpunkt.
Für diejenigen Kinder, die mit der Abstraktion von Zahlengrößen noch Schwierigkeiten hatten, ging Mahan von den alten Bilderbriefen seines Volkes aus, in denen zum Beispiel fünfzig Gewehre durch das Bild eines Gewehrs und fünfzig einfache Striche bezeichnet waren. Er erklärte die Vereinfachung und besprach die weiteren Vereinfachungen und Abstraktionen bis zu den Anfangsgründen der Mathematik hin. Gleichzeitig ließ er Stan und Stephe verstehen, daß es unmöglich war, sich unter den weißen Männern durchzusetzen, wenn man nicht alle ihre Rechenmanöver durchschauen konnte. Die Watschitschun liebten es, das ganze Leben in Zahlen aufzulösen. Dadurch wurden sie als reiche Leute arm. Man durfte dem Rechnen nicht verfallen, aber man sollte damit hantieren können. Es war ein Werkzeug und eine Waffe. Die fünfzehn Schüler, dazu die Zwillinge, fanden sich nun zu kleinen Gruppen zusammen, und jede Gruppe rechnete unter Leitung eines Helfers; dazu hatten sich Tatokala, Magasapa, Queenie, Hanska und Wakiya zur Verfügung gestellt. Drei von Melittas Pflegekindern durften mit Mahan selbst arbeiten. Nach dem Rechnen kam die Geographie dran. Das wurde eine bunte und anschauliche Stunde, denn Hugh konnte von Chicago, New York und San Francisco, Tashina von Santa Fé, Calgary und Washington, Cora von Alaska, Wakiya und Hanska vom südwestlichen Canada und von den dort wohnenden indianischen Freunden erzählen. Die Schüler hörten, was sie zu Hause noch nie erfahren hatten. Alle Orte wurden in eine Karte eingetragen, und die Kinder malten Bilder von allen diesen Plätzen, ihren Gebäuden und ihren Bewohnern, von den Turmhäusern und von den Indian-Center in Chicago, von dem Empire-State-Building, den Häuserschluchten und den Slums in New York, von dem Weißen Haus und von
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