Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg
in Sicht bekam. Die Tiere hatten sich dem Mac Lean-Gelände genähert, und Jerome wollte sie aus dem Grenzgebiet wegbringen. Er lenkte also, sobald er das Vieh erreicht hatte, zwischen die Herde und die Ranchgrenze und begann mit kurzen Rufen und leichtem Knallen der Hirtenpeitsche die Kühe fortzutreiben. Der Hengst folgte jedem Zeichen munter und ganz folgsam.
Es war Jerome nicht lieb, wahrzunehmen, wie die beiden Mac Lean-Cowboys auf einem Wellenkamm der Prärie zu Pferd auftauchten und ihn beobachteten. Der jüngere der beiden ließ sein Pferd steigen und schwenkte den Hut. Jerome beschlich die Ahnung, daß die zwei von der Nachbarranch sein Reiterpech mitangesehen hatten. Er hielt es für das vernünftigste, sich um den Hohn nicht zu kümmern, sondern im ruhigen Treiben fortzufahren. Aber die beiden ließen ihm diese Ruhe nicht. Auch der ältere nahm das Pferd hoch, grüßte und rief:
»Schneller, schneller, der junge Indian! Sollen wir ein wenig treiben helfen?«
Schon griffen die zwei auch zu ihren Hirtenpeitschen und knallten damit so scharf, daß es klang, als ob Schüsse fielen. Die Kühe setzten sich in Trab, der Hengst wurde unruhig. Die Mac Lean-Cowboys, offenbar sicher, daß sie es mit Jerome allein zu tun hatten, sprengten über die Ranchgrenze herbei, knallten mit den Peitschen, als ob Salven fielen, brachten die Kühe in Galopp und ritten rechts und links von Jerome, so daß ihm die Bewegungsfreiheit genommen war.
Als der jüngere Boy dem Hengst Jeromes einen Hieb mit der langen Lederpeitsche überzog, brach das Tier aus, bockte wie von Sinnen, schlug aus und warf Jerome nach wenigen Sekunden wieder ab. Er flog über fünf Meter weit, fiel mit dem Kopf hart auf und blieb benommen liegen. Undeutlich drangen Lachen und das Geräusch von Pferdegalopp in sein Bewußtsein. Er raffte sich zusammen und erkannte, wie der ältere Cowboy den ledigen Hengst am Zügel greifen wollte. Als dieses Bemühen sich aber als völlig vergeblich erwies und der Hengst voller Übermut mit dem Cowboy spielte und ihn dabei zum besten hielt, warf dieser das Lasso. Es entrollte sich in der Luft, die Schlinge senkte sich über den Kopf des Hengstes, der Cowboy stoppte sein gut abgerichtetes Tier, die Schlinge zog sich zu. Der Hengst war gefangen, wurde im Lauf aufgehalten und trotz seines tänzelnden Widerstandes mitgeführt. Plötzlich setzte er aber zum Galopp an. Der Lassowerfer hielt sein Pferd wieder rechtzeitig an, um den vorauszusehenden Ruck zu parieren; sein Gaul stemmte sich fest zurück. Aber der junge Hengst gebrauchte seine ganze Kraft. Mit hemmungslosem Ungestüm und ohne Rücksicht darauf, daß ihn die Schlinge einen Augenblick fast zu Tode würgen mußte, zerriß er das Lasso und stürmte davon. Sein Lauf ging nicht zurück auf die ehemaligen Büffelweiden, sondern geradeaus in die Richtung, in die er gezwungen worden war, tiefer hinein in das Gelände der Mac Lean-Ranch. Die beiden Cowboys waren mit einem Wutschrei hinter ihm her, aber sie hatten keine Aussicht, ein windschnelles lediges, verschreckt fliehendes Pferd mit ihren berittenen Tieren einzuholen.
Jerome kam wieder ganz zu sich. Er stand auf, fand das Gleichgewicht und schaute nach den Kühen, die zum Stehen gekommen waren und grasten. Von dem entkommenen Hengst und von den beiden Mac Lean-Cowboys war nichts mehr zu sehen und nichts mehr als ferner verklingender Hufschlag zu hören.
Jerome war ohne Pferd und mußte sich entscheiden, was er tun wollte. Entweder suchte er Gerald bei dem schwarzen Vieh, oder er ging zur King-Ranch. Den Verlust des jungen Hengstes mußte er melden und die Vorgänge dabei schildern. Zu Fuß waren alle Wege weit. Er entschloß sich, zu den Behausungen der Familie King im Tal der Weißen Felsen zu wandern.
Der einzige tröstliche Gedanke für ihn war der Mißerfolg, den der Hengst auch den erfahrenen Cowboys bereitet hatte. Es war selten, daß ein Rind ein Lasso zerriß, noch seltener, daß ein Pferd die Kraft dazu hatte und sie rücksichtslos genug einsetzte. Der junge Hengst war ein großartiges Tier. Aber die Niederlage, die er den Cowboys bereitet hatte, erschwerte Jerome den Nachweis, daß der Hengst abgefangen worden sei. Jerome sei gestürzt, das Pferd geflüchtet, würden die Cowboys behaupten. Wer wollte ihnen etwas anderes beweisen?
Jerome ging schnell, zeitweise lief er im Dauerlauf, aber dabei wurde ihm wieder schwindlig, und er mußte ausruhen und im Schritt weitergehen. Während seine Füße sich
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