Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg
tiefeingefressene Vorurteile gegen ihn haben. Die meisten Bürger dieser Stadt betrachten den Indianer als ehemaligen blutrünstigen Feind, der sich jetzt in einen steuerfreien, von dem Einkommen der Gesellschaft lebenden Parasiten verwandelt hat, in einen Faulenzer, diebisch und schmutzig. Ihr romantisches Ideal ist der Cowboy, nicht der Onkel Tomahawk. Ein selbstbewußter und erfolgreicher Indianer ist für sie nur annehmbar, wenn er sich assimiliert hat, also kein Indianer mehr ist. Der tüchtige, der sich nicht assimiliert, ist der verhaßteste von allen, und das eben ist Joe King. Er ist intelligent, aktiv und zynisch; sein starkes Gefühl gibt er nicht preis. Ich habe Ihnen seinen Lebenslauf in Stichworten aufgeschrieben: Man hatte ihn durch eine falsche Beschuldigung mit 16 Jahren ins Gefängnis gebracht, nach seiner Entlassung wurde er mit 18 Jahren Mitglied einer straff organisierten Bande, Begleitperson des Boss zu dessen Schutz. Vor 6 Jahren ist er zum Stamm zurückgekehrt; das Fehlurteil wurde aufgehoben. Er hat geheiratet, eine erfolgreiche Ranch gegründet, einen ersten Preis beim Rodeo von Calgary gewonnen; er ist Familienvater und Pflegevater verwaister Kinder, wie z. B. des Byron Bighorn, den er sehr liebt. Dreimal wurde er noch gerichtlich belangt: Schüsse auf Pferdediebe in Notwehr: Freispruch – Körperverletzung bei Hilfeleistung gegen Rowdys: kurze Haftstrafe – Mordverdacht: Freispruch bei erwiesener Unschuld. Im Gefängnis wird er von den Gangstern unter den Häftlingen als Abtrünniger verfolgt, aus der letzten Haftzeit hat er eine schwere Schädelverletzung davongetragen. Eine lange Haftstrafe wäre sein sicherer Tod. Hier bitte: Lebenslauf und alle Vorstrafen, damit Sie keine Überraschungen erleben.«
»Daß er geschossen hat, ist also bereits zugegeben.«
»Er hat sich selbst gestellt, wie ich Ihnen sagte.«
»Ich werde für King auf Freispruch plädieren. Danke für das Material. Sie sind Studentin?«
»Ich war Mahans Schülerin bis zum Baccalaureat. Jetzt hüte ich Kühe.«
»Kann ich noch rasch Missis King sprechen?«
Julia holte Tashina.
Das Gespräch wurde um 5 Uhr 30 abgeschlossen.
Julia blieb noch mit Leroy zusammen, der erkannt hatte, wie gut es sich mit ihr arbeiten ließ.
»Eines noch«, bemerkte Julia zu dem Rechtsanwalt. »Hugh Mahan, der jetzt als Leiter unserer illegalen Versammlung in Polizeihaft ist, hat damals bei den Wagen mit seinem Harris-Rifle in Deckung gestanden und in dem Augenblick angelegt, als George auf Jerome Patton schoß – das habe ich gesehen, aber wir wollen ihn jetzt möglichst nicht in die Sache hineinbringen. Nur wenn diese Tatsache lebenswichtig für Joe erscheint.«
»In welchem Zusammenhang?«
»Mahan und King sehen sich lächerlich ähnlich. Sie hatten damals annähernd die gleichen Hüte auf und Hemden mit dem gleichen Muster an.«
»Mit welcher Kleidung ist Mister King in die Untersuchungshaft gegangen?«
»Schwarze Cordjacke, schwarze Jeans, weißes Hemd – schwarzer Cowboyhut.«
»Können Sie mir dasselbe für Mister Mahan besorgen?«
»Ich versuche es. Würden Sie es mit übernehmen, Haftentlassung für den Zeugen Mahan zu beantragen? Er ist mißhandelt worden, und seine Frau ist sterbenskrank. Hier die Daten.«
Leroy dankte. Er machte sich auf den Weg zu seinem Mandanten Joe King und versprach, sich auch für Mahan einzusetzen.
Julia ging auf Queenies Zimmer und rief Russell, den Rodeokollegen Joes beim Kälberfangen im Team, von Beruf Verkäufer im Western-Laden, zu Hause an.
»Hier Julia Bedford. Mister Russell, kann ich Sie jetzt sofort in Ihrem Laden treffen? Es geht um Joe.«
Russell, der seinen Namen erst sehr verschlafen genannt hatte, wachte auf.
»Meinethalben. Aber im Lagerraum. Seitenstraße. Bedford?«
»Schwester von Gerald Bedford, den Sie einmal eingekleidet haben.«
»Gerald – ja, ja. Also kommen Sie!«
Es war schon hell, aber die Straßenbeleuchtung flammte noch und die Lichtreklamen in der Hauptstraße waren noch nicht alle gelöscht. Julia parkte den Wagen in der Nähe des Geschäfts, steckte den Startschlüssel ein, schloß die Wagenfenster und schlug die Tür zu, so daß das Schloß einschnappte. New City war ein unsicheres Pflaster. Der Wagen sollte ihr nicht gestohlen werden.
Sie fand den Hintereingang zu dem gesuchten Lagerraum offen und begrüßte dort Russell wie einen Bekannten.
»Kurz, Russell, Mahan muß wie Joe aussehen, auch in der Kleidung. Also schwarze Cordjacke, schwarze
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