Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg
Jeans, weißes Hemd. Er hat genau Joes Figur, und die kennen Sie ja.«
»Hut?«
»Nicht nötig. Der seine tut’s. Ist auch Leder und dunkel genug. Er hat ihn in der Haft dabei.«
»Mahan haben sie auch geschnappt? Warum? Weil er die Versammlung geleitet hat?«
»Ja.«
»Mal sehen, was da ist. Hoffe, daß ich Ihnen helfen kann.« Russell suchte. Das Hemd ließ sich sofort finden. Jeans waren stapelweise vorhanden, aber es dauerte einige Zeit, bis Russel die passende Nummer in Schwarz hervorzog.
»Ein Einzelstück – Sie haben Glück gehabt.«
Russell legte zwei schwarze Jacken vor. Die eine war sicher zu kurz, die größere gewiß zu weit.
»Leider…«
»Kann man die große nicht noch ändern?«
»Bis wann?«
»Bis 9 Uhr a.m.«
Russells Verwunderung stieg.
»Miss Bedford!«
»Bis 9 Uhr, sagte ich.«
»Muß das sein?«
»Yes.«
»Dann mache ich es bei mir zu Hause. Holen Sie die Sachen ab?«
»Yes.«
»Also gut. Darf ich fragen, wie es um Joe steht?«
»Um 10 Uhr ist Termin.«
»Weiß, weiß. Ist schon alles verloren oder gibt es noch einen Kampf in der Verhandlung?«
»Bis aufs Messer. Seien Sie sicher. Unsere besten Menschen sterben. Patricia Bighorn, Jerome Patton, bald auch Andy Tiger. Cora Mahan ist schwerkrank. Sie sollen uns Joe nicht auch noch wegmorden.«
»Hat in Wirklichkeit Mahan geschossen?«
»Nein.«
»Also – um 9 Uhr.«
»Ja.«
Julia fuhr in das Hotel zurück, war Punkt 9 Uhr wieder bei Russell, wo sie die gewünschten Kleidungsstücke erhielt, und traf anschließend Leroy, der mit Joe King gesprochen hatte. Sie übergab ihm die Sachen, und in demselben Augenblick überkam sie der beklemmende Zweifel, ob sie recht gehandelt habe, als sie über Hugh Mahan die Möglichkeit einer neuen Gefahr heraufbeschwor.
Um 10 a.m. wurde die Verhandlung in Sachen Joe King in dem kleinen Gerichtssaal eröffnet, in dessen Zuhörerraum Russell sich mit Mühe einen Platz gesichert hatte. Nur sehr wenige Indianer hatten Einlaß gefunden.
Unter den Geschworenen saß Lucie Green. Sie hatte schon in fünf Strafprozessen als Geschworene mitgewirkt, in verschiedenen Städten, im Süden und im Norden; in New City war sie nun das zweite Mal berufen. Die Gerichtszeremonien waren ihr nicht mehr fremd, sie beschäftigten ihre Aufmerksamkeit wenig. Aber die Person des Richters zog ihre Aufmerksamkeit heute stärker an als während der Verhandlung gegen Mac Lean, die außerordentlich kurz verlaufen war. Mister Wilson war groß und stark, schon alt; wahrscheinlich stand er kurz vor seiner Pensionierung. Er hatte einen breiten Mund, die Lippen waren schmal. Über den Augen wölbte sich die Stirn; die Augenbrauen, halb noch schwarz, halb schon grau, standen borstig. Er wirkte starkwillig und war für eine kurzangebundene Prozeßführung bekannt. Unter allen angesehenen Leuten New Citys war er einer der angesehensten.
Lucie Green faßte Joe King ins Auge, den sie jetzt zum zweitenmal, aber nicht als Zeugen, sondern als Angeklagten, sah. Er trug Handschellen, als ob man einen Ausbruchsversuch befürchtete, und war nicht nur von einem, sondern von zwei Polizisten flankiert. Die Fesseln brandmarkten ihn als einen Mann, der Verbrechen begehen konnte und zu fürchten war. Das dunkle Braun seiner Gesichtshaut, die Nachwirkungen des Hungerstreiks, die ihn noch hagerer erscheinen ließen, die verschlossene Miene, ein zur Schau getragener Gleichmut gegen alles, was man ihm etwa antun könnte, weckten mehr Abneigung als irgendein Mitgefühl.
Die Vernehmung des Angeklagten verlief sehr rasch, da er dem Staatsanwalt und dem Verteidiger wortkarg und präzise Auskunft gab und sich dabei zu dem bekannte, was in dem Protokoll seiner ersten Aussagen vor der Polizei stand.
Er hatte geschossen und Mac Lean getötet – wie er behauptete, in Notwehr.
Das erste, was Lucie Green an dem Angeklagten anders als fremdartig oder sogar abstoßend berührte, war seine Stimme; sie hatte einen dunklen, überzeugenden Klang, einen guten »sound«. Unter diesem Eindruck urteilte Lucie nun auch über die Gestalt. Joe war groß, schmalhüftig, nicht breitschultrig. Seine Handgelenke, die in den Handschellen lagen, und seine Hände waren schlank, nicht Ausdruck von Brutalität, vielleicht von Gewandtheit. Wenn er aufstand, wirkte er durch Bewegung und Haltung wie ein gefangener Häuptling.
Merkwürdig, wie solche Tradition der Würde bei diesem Volk noch immer durchschimmerte.
Die Vernehmung der Zeugen begann, und die Geschworenen
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