Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg
Familienvater von gut erzogenen Kindern und Pflegekindern, ein indianischer Bürger unseres Landes, wie wir uns viele wünschen möchten. Wenn er als Jugendlicher einmal auf Abwege gekommen ist, dann nur darum, weil ihn ein entehrendes Fehlurteil, das später aufgehoben werden mußte, den Verbrechern in die Arme getrieben hatte. – Es handelt sich bei Kings Schuß um Tötung in Notwehr, zum Schutze des unmittelbar bedrohten Lebens eines unbewaffneten Kindes. Ich plädiere auf Freispruch für meinen Mandanten.«
Der Staatsanwalt erhielt noch einmal das Wort.
»Vergessen Sie nicht«, sagte er, bei dem ersten Wort zum Richter, dann aber sofort zu den Geschworenen gewandt, »vergessen Sie nicht, daß der Angeklagte einen Menschen getötet hat, der nicht auf ihn geschossen und das Gewehr, wie der Angeklagte selbst zugibt, auch nicht auf ihn gerichtet hatte.«
Der Richter schaute von seinem Sitz auf den Mann herab, für den er nach der Anklagerede des Staatsanwalts mit Sicherheit das Todesurteil erwartete.
»Angeklagter, wollen Sie noch etwas sagen? Sie haben das Recht dazu.«
Joe Inya-he-yukan stand auf und sah die Geschworenen an. Er hob die Lider dabei kaum.
»Ich habe geschossen, um ein Kind zu retten. Kein weißer Mann würde dafür verurteilt werden. Sie können mich aber töten, weil ich ein Indianer bin. Sie haben die Macht. Mein Volk hat kein eigenes Recht mehr.«
Ein Rauschen des Unwillens ging durch den Saal. Joes Freunde blieben stumm; Joes Stolz richtete auch den ihren auf, aber sie hatten Angst um ihn.
Der Staatsanwalt machte von seinem Recht Gebrauch, nach den Worten des Angeklagten, die für diesen die letzten waren, noch einmal zu sprechen.
»Euer Ehren, der Angeklagte hat sich selbst die Maske vom Gesicht genommen. Er ist ein roter Rassist, und er hat einen friedlichen Farmer aus Haß ermordet.«
Die Geschworenen zogen sich zur Beratung zurück.
Hugh Mahan war wieder abgeführt worden.
Lucie Green saß unter den Geschworenen am langen Tisch und hörte sie reden. Dabei wurde ihr bewußt, daß sie sich innerlich von den andern entfernt hatte. Die Diskussion blieb an der Oberfläche, verfing sich in emotionalen Momenten und glitt immer mehr an der Sache vorbei in das Fahrwasser des Staatsanwalts hinein. Ein indianischer Gangster hatte auf einen weißen Rancher geschossen. Klare Fronten. Joe King mußte endlich die schon lange fällige Hinrichtung erleiden. Wie frech hatte er in seinem Schlußwort die Geschworenen und ganz Amerika angegriffen! Den tödlichen Schuß abgegeben zu haben, leugnete er aber nicht, und er gab zu, daß Mac Lean nicht auf ihn selbst gezielt hatte. Er war schuldig. Laughlin griff in diesen Verlauf der Diskussion kaum ein. Er hetzte nicht mit, seine Bemerkungen blieben farblos.
»Es war sehr unangenehm, wie dieser Leroy mit seiner glatten Zunge eine angesehene Rancherin verhöhnte. Das ist das skrupellose Volk aus dem Osten. Sie haben keine Grundsätze mehr«, bemerkte Laughlins Nachbar zum Abschluß.
Lucie Green, die einzige Geschworene, die den Tatort kannte, hatte bis dahin kein Wort gesagt. Sie saß aufrecht auf ihrem Stuhl, und die Totenmaske Jeromes, dessen Ermordung nicht bestraft worden war, erschien ihr mit ihren heiligen und ihren strengen Zügen. Sie sah Joe King unter elektrischen Stößen zu schwarzem Fleisch verschmoren; man konnte keine Totenmaske mehr von ihm abnehmen, und den Kindern blieb nicht einmal ein Grab ihres Vaters. Die Abstimmung begann.
Alle Geschworenen stimmten für »Schuldig«, bedenkenlos, wie selbstverständlich. Sie vertrauten ihrem Staatsanwalt, der einer der Ihren war. Lucie hatte als letzte ihre Stimme abzugeben.
»Nicht schuldig.«
Auf den Gesichtern malten sich Unverständnis und Ungeduld.
»Wie bitte?«
»Nicht schuldig, sagte ich.«
»Wir können doch nicht noch einmal von vorn anfangen, Miss Green. Stimmen Sie uns zu! Die Sache ist klar.«
»Aber, Miss Green, wie kommen gerade Sie und Sie allein zu einer solchen Stellungnahme?«
Lucie hatte einen Weg beschritten, den sie nicht zurückgehen, auf dem sie nicht einmal zurückschauen konnte, sonst tat sich ein politischer und ein psychischer Abgrund auf. Ihr Intellekt und ihre Aktivität peitschten sich gegenseitig auf, um diesen Punkt zu überwinden.
»Die Schuld ist nicht beweisbar. Die Kronzeugin des Staatsanwalts hat vollständig versagt. Sie hat sich einfach lächerlich und in Wahrheit strafbar gemacht. King hat geschossen, um ein Kind zu retten. Nicht
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