Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg
sich zu einer für einen Fünfjährigen erstaunlichen, vielleicht von den Eltern oder von den älteren Geschwistern eingegebenen Frage. Ob »unsere Regierung« und »unsere Republik« dasselbe seien. Miss Hay überließ Mahan die heikle Antwort. Er sagte: »Zur Zeit.«
Miss Hay hatte Bedenken, wußte aber auch keine bessere Erklärung und hörte sich noch die mit Inbrunst im Chor gesprochenen Worte des Gelöbnisses an: »Liberty and Justice for all« – »Freiheit und Recht für alle«. Es war wohl das beste, wenn sie nun ging und einen guten Eindruck mitnahm, ohne ihn durch untergründige Ahnungen allzusehr stören zu lassen. Mahan und die Kinder hatten sie so merkwürdig angeschaut. Sie war vor Mahan zum erstenmal erschrocken.
In den Pausen herrschte Stille. Auch in der großen Mittagspause spielten die Schüler nicht, sondern fanden sich in Viererreihen zusammen, um rund um den Vorplatz zu gehen, so, wie es bei den indianischen Tänzen zu Ehren Verstorbener üblich war. Die Internatschüler hatten auch heute keinen Sport. Sie holten sich Bücher. Während sie zu lesen schienen, dachten sie nach. Nur hin und wieder wurde ein Blatt ohne Geräusch umgeblättert, und der eine oder andere nahm die Hand vor den Mund; Mahan wußte dann, daß der Junge und das Mädchen mit dem Großen Geheimnis sprachen.
Alle hatten das Gefühl, daß die Schüler die Erwachsenen beobachteten, doch stellte kein Schüler eine Frage zum Tode Patricias.
Zu Beginn des Unterrichts war in jeder Klasse angesagt worden, daß Patricia Bighorn überfahren worden sei, als sie am Schluß der Pause versuchte, über die Straße zu laufen, wozu sie keinen Anlaß hatte und was den Schülern auch verboten war. Die Kinder schauten auf die Lehrer, die solche Worte sprachen, aber die Worte konnten nicht in sie eindringen; die Augen, die auf die Lehrer gerichtet waren, erschienen alle wie verglast.
Von der in sich gekehrten und unzugänglichen Ruhe und Schweigsamkeit der Kinder hoben sich ein Kommen und Gehen, Rufenlassen und Verabschieden und manches lautere Wort in den Räumen der Lehrerkonferenz und des Rektors um so mehr ab.
Mahan und Cargill wurden abwechselnd zum Rektor gerufen. Der Polizeichef selbst, ein weißer Mann, ließ sich sehen. Auch Miss Bilkins war um die Mittagszeit gekommen. Als die Schulbusse nachmittags die Kinder nach Hause brachten, fuhr auch die junge Dezernentin zur Agentursiedlung zurück und nahm Rektor Snider mit, um mit ihm zusammen ihren Bericht bei Chester Carr abzugeben.
Auf diese Weise war Lehrer Ball für einen Abend vor Sniders Wachsamkeit sicher. Er lud die beiden Erzieher Ron Warrior und Hugh Mahan in sein Haus ein. Die drei blieben unter sich, nahmen einen Whisky Soda, bereiteten aus Balls Vorräten, die im Eisschrank zu finden waren, Toasts und brühten Tee. Die Küche war wie üblich nur durch eine halbhohe Wand von dem Eßraum getrennt. Ball und die beiden Erzieher saßen um den runden Tisch.
Es wäre sinnlos gewesen, von etwas anderem zu reden als von dem, was aller Gedanken beschäftigte.
»Byron Bighorn wird weiter unsere Schule besuchen«, berichtete Ball. »Mußte er von seinem fünften bis zu seinem zehnten Jahr als Epileptiker in unsere Schule gehen, damals sogar ohne Bus, den weiten Weg zu Fuß, so kann er es auch jetzt schaffen. Ja, so hat Doc Eivie entschieden. Er hat im Hospital jetzt keinen Platz für eine Kur frei. Für eine Woche darf Byron aber zu Hause bleiben.«
Ron Warrior nickte zweimal, einmal für sich, einmal für Hugh.
Da Ball keine weitere Antwort erhielt, fuhr er fort. »Wie sind Sie denn nun mit Snider und der Polizei verblieben, Mahan?«
Hugh zuckte nach seiner Gewohnheit die Achseln. »Unverändert.«
»Hat Patricia nicht einfach versucht, vor dem Wagen über die Straße zu rennen?«
»Sie hat sich vor den Wagen geworfen. Auch Eivies Befund läßt nur diese Lösung zu. Der Wagen hat sie nicht umgerissen. Dann wären ihre Lage und ihre Verletzungen andere gewesen.«
»Es wird Ärger geben«, sagte Warrior voraus. »Amerikanische Beamte werden immer streng gemaßregelt. Wissen Sie schon, was Sie machen wollen, wenn Sie die Stelle hier verlieren. Hugh?«
»Ron, haben Sie in Ihrem Leben immer etwas Brauchbares getan?«
»Nicht gerade. Kennen Sie meinen Lebenslauf noch immer nicht? In den Sümpfen Floridas geboren, arbeitslos, Koreakrieg, Dienst beim CIA in Ostasien, dort Lebewohl gesagt und gnadenweise zum Dienst in der Prärie bei den Beginnern zugelassen. Vorläufig bin ich
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