Welskopf-Henrich, Liselotte - Das Blut des Adlers 4 - Der siebenstufige Berg
gehen. Ich bin schuld.«
Erst herrschte noch weiter Schweigen. Dann tastete die Hand des Jungen nach Hughs linker Hand. »Wasescha, Tishunka-wasit-win geht ihren weiten Weg. Verfolgst du sie mit deinen Gedanken, weil das letzte, was sie getan hat, Ungehorsam gegen dich war?«
»Ich verfolge mich selbst, Wakiya.«
»Das ist nicht gut. Bist du ein Christ?«
»Ich weiß nicht. Sie haben mich getauft.«
»Verstehst du unseren Sonnentanz?«
»Ich bin nicht hindurchgegangen.«
»Mein Vater Inya-he-yukan tat es.«
Der Mond war gewandert. Ein Lichtschimmer fiel schräg in das Zimmer über Wakiya, Inya-he-yukan und Wasescha hinweg in eine kahle Ecke.
»Manche Menschen sterben für sich allein, aber manche sterben für die anderen. Wasescha, verstehst du, was ich sage?«
»Ich verstehe dich, Wakiya. Vielleicht verstehe ich dich nicht ganz. Aber sie wollen Tishunka-wasit-win auch noch ihren Tod wegnehmen. Daran will ich sie hindern.«
»Sie können es nicht, Wasescha. Tishunka-wasit-win ist nicht für die Watschitschun gestorben. Sie ist für uns gestorben. Wir wissen es, die Sonne hat es gesehen, und Wakantanka weiß von ihr.«
Wakiyas Händedruck ließ langsam nach, er schien einzuschlafen. Über seine vom Mondlicht erhellten Züge breitete sich wiederum Ruhe, die gleiche Ruhe, die über Tishunka-wasit-wins Antlitz lag.
Inya-he-yukan legte seine Wange an das Gesicht Wakiyas.
Der Atem ging regelmäßig.
Der Junge wurde noch einmal wach und schaute die beiden an, die an seinem Bett standen.
»Habt keine Furcht um mich, Inya-he-yukan und Wasescha. Ich tue es jetzt nicht, und ich werde nie etwas tun, worum ihr trauern müßtet. Gute Nacht.«
Als Wakiya wieder eingeschlafen war, gingen King und Mahan aus dem Zimmer. Beim Wächter erfuhren sie, daß der Hospitalarzt Eivie sein Kommen wegen einer dringenden nächtlichen Operation abgesagt habe.
Mahan erwartete, daß King sich verabschieden und gehen werde, aber Joe zögerte noch, ehe er das Haus verließ.
»Ihr Verband sitzt sehr schlecht, Mahan. Ich muß Sie mit meinem Wagen ins Hospital bringen. Oder darf ich selbst nach Ihrer Schußwunde sehen? Ein Rancher und ehemaliger Gangster kennt sich mit solchen Sachen besser aus als die Leute hier.«
Die beiden gingen in das Kranken- und Totenzimmer zurück. King war tatsächlich ein sachverständiger Wundarzt. Miss Hay war zu ungeübt und zu zaghaft gewesen.
Der neue Verband saß.
Die beiden Männer standen noch einmal vor dem Totenbett Tishunka-wasit-wins. Sie ließen die Tote bedeckt; nur die Umrisse ihres jungen zerstörten Körpers waren sichtbar. Inya-he-yukan und Wasescha wußten, daß sie davon Abschied nehmen mußten, aber der Tod Tishunka-wasit-wins blieb bei ihnen. Sie gelobten sich, was keiner aussprach, was aber ein jeder vom andern wußte.
Der Tag, an dem Patricia Bighorn aus dem Leben schied, war nach der Rechnung der weißen Männer die Mitte einer Woche. Für die Verwandten und die indianischen Freunde des Mädchens war und blieb es der Tag, an dem Tishunka-wasit-win gestorben war.
Eivie, der Hospitalarzt, kam, und nachdem er die Tote gesehen und alle Merkmale ihres Todes aufgenommen hatte, wurde sie den Eltern zur Bestattung freigegeben. Ihre Züge wirkten dem Leben nicht mehr so nahe wie noch am Abend zuvor. Der Körper war kalt, das Antlitz wurde fremd und den Lebenden schon ganz fern gerückt.
Dennoch war es, als ob ein Wirken von dem still gewordenen Mädchen ausgehe, und wer sie gekannt und von ihrem Tod erfahren hatte, konnte sich dem nicht entziehen, weder Freund noch Feind.
Die Schüler und selbst die Beginner waren während des Unterrichts aufmerksamer als sonst, gespannt und mit allen Worten sehr sparsam. Es gab für die Lehrer und Erzieher kaum etwas zu loben, aber auch kaum etwas zu tadeln.
Als Miss Hay im Auftrage des Rektors in der Sechzehnergruppe Mahans inspizierte, konnte sie nur feststellen, daß dort das Flaggengelöbnis weiter geübt wurde. Ihre Empfindungen blieben zwiespältig, denn sie mußte sich eingestehen, daß sie etwas anderes erwartet und sich also getäuscht hatte, was niemand gern vor sich selbst zugibt; ihr dienstliches Gewissen aber war gezwungen, sich befriedigt zu fühlen. Es war der kleine Harry King, der sich ein einziges Mal versprochen hatte, als er dem Urtext gemäß aufsagte, er sei der Flagge treu und »der Republik«, für die sie stehe, anstatt, wie der Schultext lautete, »der Regierung«. Als Miss Hay ihn wohlwollend verbesserte, meldete er
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