WELTEN-NEBEL
als untypisch war. Sie versuchte, sich an die vergangenen Tage zu erinnern. Warum war ihr das bisher nicht aufgefallen? Das Wetter war gänzlich anders gewesen als in den vorangegangenen Jahren. Es war, als habe ihr die Offenbarung der letzten Nacht die Augen geöffnet. Also war es wahr, der Nebel wurde dünner, so sehr, dass die Sonne ihn besser durchdringen konnte. Sie hatte gewusst, dass dies geschehen würde, doch so schnell? Es machte ihr Angst. Wenn die Prophezeiung so schnell eintrat, würde ihnen dann genug Zeit bleiben, die Menschen Martuls auf die Veränderung vorzubereiten? Nein, wahrscheinlich nicht.
Sie hatte nicht bemerkt, wie er ihr gefolgt war, erst seine Hand auf ihrer Schulter hatte sie seine Gegenwart bemerken lassen. Er sprach aus, was sie beschäftigte: „Der Nebel, er schwindet. Ich kann es spüren. Ich fürchte, uns bleibt nicht mehr viel Zeit.“
Es hatte ihn verwundert, dass sie die Küche so hastig verlassen hatte. Also war er ihr nachgegangen. Sie stand regungslos da und betrachtete die Sonne. Diese war weit weniger trübe, als er es in Erinnerung hatte. Die Erkenntnis traf ihn wie einen Blitz. Der Nebel, er schwand. Er vermutete, dass sie es auch bemerkt hatte, daher sprach er mehr zu sich selbst, denn zu ihr. Ihr Nicken bestätigte seine Vermutung.
Doch es blieb ihm keine Zeit, den Umstand mit ihr zu erörtern. Für beide unbemerkt hatte sich ein Besucher genähert. Er schätzte seine Chance, ungesehen ins Haus zu verschwinden, als denkbar gering ein. Dennoch wollte er es versuchen. Er darf mich nicht sehen, bitte, ihr Götter, macht, dass er mich nicht sieht. Seine Sicht trübte sich. Es war, als sei er von einem dichten Nebel umfangen. Ewen dreht sich zu ihm um und an der Verwunderung in ihrem Blick erkannte er, dass es keine Sinnestäuschung war. Sein Körper war im Nebel verborgen. Wenn sie ihn nicht sah, so vermochte der Besucher es ebenso wenig. Nichtsdestotrotz entfernte er sich ein kleines Stück von ihr, blieb aber in Hörweite.
Das Gefühl von Dringlichkeit ergriff Besitz von ihr. Am liebsten hätte sich Ewen sofort in die Höhle zurückgezogen, um mit der Arbeit zu beginnen. So wie die Dinge standen, konnten sie sich nicht den ganzen Winter Zeit nehmen, um das Wissen zusammenzustellen. Nein, sie würden die Berge noch vor dem ersten Schnee verlassen müssen.
Gerade wollte sie ihre Schritte in die Richtung der Höhle lenken, als sie des Besuchers gewahr wurde. Auch wenn sie ihn seit Jahren nicht mehr gesehen hatte, erkannte sie ihn sofort. Es war Agor, ihr Bruder. Er kam auf sie zu. Es war zu spät, um Btol zu sagen, er solle sich verstecken, sicher hatte Agor ihn bereits erblickt. Also drehte sie sich zu ihm, um ihm zu sagen, er könne bleiben. Doch er stand nicht länger hinter ihr. Dort, wo sie ihn vermutete, war nur ein diffuses Flirren der Luft auszumachen, trübe wie Nebel. Irgendwie hatte er es geschafft, sich vor ihren Augen zu verbergen. Sie nutze ihre Gabe, um sich zu versichern, dass er noch immer da war. Sie versuchte, sich nichts anmerken zu lassen und wandte sich ihrem Bruder zu, der sie inzwischen fast erreicht hatte.
„ Agor, welch unerwarteter Besuch.“
„ Ewen, die Boten haben mir berichtet, dass du nun die Bewahrerin bist. Doch dies ist nicht der Grund meines Besuches.“ Er schien sich nicht mit Höflichkeiten aufhalten zu wollen. „Ich komme, um deinen Rat zu ersuchen. Das Getreide ist vor der Zeit reif. Niemand vermag zu sagen, woran es liegt. Die Körner sind klein, doch die Halme beginnen zu vertrocknen. Es ist, als würde die Sonne sie verbrennen. Die Menschen aus dem Nachbardorf berichten das Gleiche.“
„ Dann beginnt zu ernten.“
„ Das haben wir bereits. Die Ernte wird schlecht sein, doch es wird reichen, denn die Obstbäume tragen gut in diesem Jahr.“
„ Das freut mich. Doch was erwarteten die Dörfler dann von mir?“
„ Nun, die Alten meinen, es sei ein Zeichen der Götter. Noch nie habe es eine so frühe Ernte gegeben.“
„ Also soll ich die Götter um günstigeres Wetter bitten? Meint ihr, dass meine Gebete stärker sind als die euren? Oder soll ich in den Chroniken nach Hinweisen auf ähnliche Phänomene suchen?“
„ All dies wäre von Vorteil. Doch da ist noch etwas. Vor ungefähr zwei Monden zog ein junger Mann durch unser Dorf. Irgendetwas war seltsam an ihm. Er sah so anders aus als wir. Manche vermuten, dass er schuld an den Ernteausfällen ist. Vielleicht hat er Zauberei angewandt.“
Sie wusste,
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