WELTEN-NEBEL
geleitetet sie zugleich durch das Gewirr der Gassen zum Tempel. Träger würden währenddessen das Gepäck entladen und zum Gästehaus der Regierung bringen, das sich in einem Nebengebäude des ehemaligen Königspalastes befand. Offensichtlich war nicht nur der Tempel an einer Erklärung für die seltsamen Zeichen auf dem Heiligen Würfel interessiert.
In der Weite der Landschaft Eirens aufgewachsen, hatte Mawen nie eine konkrete Vorstellung von einer Stadt entwickelt. Daher war in Aaran alles neu und aufregend für ihn. Sein Lehrer musste ihn mehrmals ermahnen, nicht vor lauter Staunen und Neugierde stehen zu bleiben. Für eine Besichtigung Aarans würde sich später sicher noch Zeit finden lassen.
Besonders überwältigt war Mawen von der Vielzahl an Menschen, die geschäftig durch die Straßen eilten. Auch war es ungewohnt laut und stickig. Wenn es in Städten immer so zuging, so konnte er nicht verstehen, warum Leute freiwillig hier lebten. Als sie nach einiger Zeit den Tempel erreichten und betraten, empfand Mawen die darin herrschende Ruhe als Wohltat. Zwar waren auch hier viele Menschen versammelt, aber die meisten waren in stille Gebete versunken, Gespräche mit den Priesterinnen waren nur sehr gedämpft zu vernehmen.
Die beiden Priesterinnen baten Ruwen und Mawen zu warten. Die Oberpriesterin würde sie gleich willkommen heißen. Die beiden nutzten die Wartezeit, um einen ersten Blick auf den Heiligen Würfel zu werfen. Im Gegensatz zu Ruwen kannte Mawen das zentrale Heiligtum Cytrias nur aus Erzählungen und von Zeichnungen. Leise erklärte ihm sein Lehrer, dass die Oberfläche einst vollkommen glatt gewesen war. Als Mawen den Würfel berühren wollte, hielt ihn Ruwen zurück. Es wurde nicht gern gesehen, wenn Gläubige den Würfel ohne Erlaubnis der Priesterinnen berührten.
„ Erkundet ihn zuerst mit den Augen. Wenn Euch irgendwas auffällt oder plötzlich in den Sinn kommt, so teile es mir mit. Wir haben es hier mit etwas vollkommen Neuem zu tun. Jeder Hinweis kann hilfreich sein.“
Mawen nickte verstehend. Seine Blicke wanderten zunächst über den Würfel als Ganzes, bevor er sich dem Relief aus Zeichen widmete. Schnell bemerkte er, dass es nur eine begrenzte Anzahl Zeichen gab. Ja, dies war unverkennbar eine Art von Schrift. Und er würde helfen dürfen, deren Sinn zu ergründen.
Seine Gedankengänge wurden durch seinen Lehrmeister unterbrochen, der ihm die Hand auf die Schulter legte. Soeben war die Oberpriesterin eingetreten.
Nach einigen Worten der Begrüßung lud Yerina den Gelehrten Ruwen und seinen Schüler Mawen ein, mit ihr zu essen. Sie war froh, dass die beiden endlich eingetroffen waren, um ihr bei der Lösung des Rätsels zu helfen. Durch einen Botenvogel, den der von ihr nach Roteha gesandte Mann mitgeführt hatte, war sie schon frühzeitig über die baldige Ankunft der beiden informiert gewesen.
Der speziell trainierte Wara war kurz nach dem Aufbruch von Roteha auf die Reise geschickt worden und schon vor einem Mond in der Vogelstation von Aaran eingetroffen. Die meisten Städte Cytrias verfügten über eigene Botenvögel. Diese fanden stets den Weg zurück in ihre Heimatstadt, wohin auch immer sie gebracht worden. Dieses schnelle und zuverlässige Kommunikationssystem war von unschätzbarem Wert für die Verwaltung Cytrias und die Regierung förderte den Ausbau des Netzes. Roteha jedoch verfügte über keine eigenen Botenvögel. Die Gelehrten lehnten es ab, weil sie nicht permanent von irgendwelchen Anfragen belästigt werden wollten. Außerdem war bisher keiner von ihnen willens gewesen, sich um Training und Pflege der Vögel zu kümmern. Daher musste jede Anfrage persönlich überbracht werden, was auch in diesem Fall wertvolle Zeit gekostet hatte.
Nun aber war der Gelehrte eingetroffen und Yerina war zuversichtlich, dass er helfen konnte.
Schon einmal hatte sich Ruwen als hilfreich erwiesen, damals, als sie und ihre Gefährten nach dem Schnittpunkt der Linien der Macht gesucht hatten. Ohne Ruwens Wissen wäre ihnen die Rettung Cytrias nicht gelungen.
Auch Ruwens Schüler gab Anlass zur Hoffnung. Von Peria wusste Yerina, wie intelligent Madia beziehungsweise Mawen war. Sie musste sich bloß in acht nehmen, dass sie Mawens Geheimnis nicht versehentlich aufdeckte. Sie betrachtete Ruwens Schüler, der neben seinem Meister am reich gedeckten Tisch Platz genommen hatte. Seine Täuschung war wirklich perfekt. Hätte Yerina es nicht besser gewusst, sie hätte die Tochter
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