WELTEN-NEBEL
dein Vater stammt nicht aus Elung. Ich habe dir doch bereits erzählt, dass es noch weitere Länder in den Weiten des Ozeans gibt. Liwam kam aus einem von ihnen, aus Cytria. Er war nur Gast in Elung. Ich muss zugeben, dass ich nicht weiß, was ihn nach Elung getrieben hatte. Er sprach die Sprache Elungs nur recht unvollkommen, sodass wir uns kaum verständigen konnten.“
Peerin musste sich eingestehen, wie seltsam sich das anhörte. Sie erklärte ihrer Tochter gerade, dass ihr Vater ein Ausländer sei, von dem sie kaum mehr wusste als seinen Namen, und mit dem sie sich eingelassen hatte, obgleich sie sich nicht einmal richtig mit ihm hatte unterhalten können. Rückblickend betrachtet hatte sie sich damals ziemlich dumm verhalten. Somit war sie selbst schuld an ihrem Schicksal.
So hatte sie es noch nie gesehen. Anfangs war der Schmerz über das Verschwinden Liwams zu groß gewesen, dann war sie damit beschäftigt gewesen, mit der ungewollten Schwangerschaft fertig zu werden. Nachdem sie Elung den Rücken gekehrt hatte, hatte sie sich bemüht, die Vergangenheit zu vergessen. Doch jetzt, nach all den Jahren, konnte sie zurückschauen, ohne dass Gefühle ihr Urteilsvermögen trübten. Jetzt endlich konnte sie ihre eigenen Fehler erkennen. Nicht länger konnte sie ihren Schmerz, den sie hatte durchleiden müssen, allein Liwam anlasten. Ihr Anteil daran war nicht zu leugnen.
Sie schwieg schon eine ganze Weile. Ihel wurde unruhig, gleich würde sie sie mit Fragen bestürmen. Vorher wollte sie aber ihre Geschichte beenden. „Für dich ist dies alles sicher schwer zu begreifen. Auch ich habe kaum eine Erklärung dafür, was mich damals trieb, mich auf ihn einzulassen. Es waren wohl meine Gefühle, die mich alle Vernunft vergessen ließen. Ich muss zugeben, dass ich fasziniert war von dem fremdländischen Aussehen deines Vaters. Er war nicht besonders groß, nicht größer als ich, hatte blondes Haar und braune Augen. Seine Haut hatte einen sanften Olivton. Anders als die Männer Atress war er schmal, was seiner Erscheinung eine gewisse Eleganz verlieh. Vielleicht sehen alle Männer seines Landes so aus, doch in Elung war seine Erscheinung etwas Besonderes und ich war nicht die einzige Frau, die ihm schöne Augen machte.
Jedenfalls habe ich mich in ihn verliebt. Ohne über die Konsequenzen nachzudenken, begann ich, mich im Geheimen mit ihm zu treffen. Ich dachte, er empfände ähnlich. Daher war ich am Boden zerstört, als er plötzlich verschwand. Um mir selbst und meinen Eltern die Schmach zu ersparen, durfte natürlich niemand von der Liebschaft wissen, und so war ich mit meinem Schmerz und meiner Trauer allein. Als ich dann bemerkte, dass ich schwanger war, blieb mir keine andere Wahl, als Elung zu verlassen. Ich überredete meine Eltern, eine Expedition nach Atress begleiten zu dürfen. Schon zuvor hatte ich mich sehr für die Erforschung der anderen Länder interessiert, ich habe in dieser Hinsicht meiner Tante Süylin nachgeeifert. Sie und ihr Mann Rihnall waren damals, vor mehr als fünfundvierzig Jahren, die ersten Elunger, die Atress besuchten.
Atress bot mir die Möglichkeit, mir fern der Erinnerungen ein neues Leben aufzubauen. Auch konnte ich dich hier großziehen, ohne dass jemand um die Umstände deiner Zeugung erfahren musste.“
„ Aber hättest du nicht irgendwann von der Expedition zurückkehren sollen?“
„ Ich habe deinen Großeltern einen Brief hinterlassen, in dem ich den wahren Grund für meinen Wunsch enthüllte, Elung zu verlassen. Sie rechneten nicht mit meiner Rückkehr.“
Was ihre Mutter ihr soeben eröffnet hatte, war ei nfach unglaublich. Unzählige Fragen schossen ihr durch den Kopf. Sie brauchte einen Moment, um ihre Gedanken zu ordnen. Auch wenn ihre Mutter sie jahrelang belogen hatte, Ihel zürnte ihr deswegen nicht. Sie konnte ihre Gründe verstehen. Sie hatte sie schützen wollen, schließlich hörte niemand gerne, dass der eigene Vater die Mutter im Stich gelassen hatte. Und sicher hatte Peerin auch sich selbst schützen wollen. Trotzdem so viele Jahre verstrichen waren, hatte Ihel geglaubt, noch immer einen Funken Schmerz in ihren Worten mitschwingen zu hören. Wie groß musste ihre Trauer gewesen sein, als sie damals Elung verließ? Es musste ihr schwergefallen sein, ein Kind zu lieben, dass sie stets an diesen Schmerz erinnerte. Ihel konnte ihr für die Liebe, die sie ihr gegeben hatte, wohl kaum jemals genug danken. Sie umarmte ihre Mutter, hielt sie eine Weile
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