WELTEN-NEBEL
ich wollte wissen, warum sie das Essen genommen hatte. Also folgte ich ihr. Ihr Weg führte sie zum Stadtrand. Sie betrat ein kleines Haus. Die Fensterläden waren nur angelehnt, sodass ich durch einen Spalt ins Innere schauen konnte. Ich wurde Zeuge, wie Awija einen Mann küsste. Meine Tante hatte offenbar einen Geliebten. Ich war alt genug, um zu wissen, dass dies nicht ehrenvoll war. Warum tat sie das? Sie war unverheiratet, sie hätte doch einfach die Ehe mit ihm eingehen können. Aber vielleicht hatte er ja eine Frau. Doch dann hätte Awija ihm wohl nichts zu essen mitbringen müssen. Dies alles war sehr merkwürdig. Ich beschloss, die Sache weiter zu beobachten. Einen Mond lang wurde ich zum geheimen Verfolger meiner Tante, auch den Mann behielt ich im Auge.“
Er machte eine Pause, wohl um die Spannung zu steigern. Ihel spürte, wie sehr er das Geschichtenerzählen genoss. Hoffentlich nicht zu sehr, nicht, dass er ihr Lügen auftischte.
„ Sie trafen sich beinahe täglich. Küsse waren nicht das Einzige, was sie tauschten, wenn Ihr versteht, was ich meine.“
„ Könnt Ihr mir mehr über den Mann erzählen. Wisst Ihr, wer er war?“
„ Nein. Aber ich denke, sein Name war Eldan.“
„ Ihr seid Euch nicht sicher?“
„ Nein, denn ich konnte nicht verstehen, was meine Tante mit ihm sprach. Wie ich heute weiß, sprachen sie Zyn miteinander. Als Junge aber war mir die Gelehrtensprache noch fremd.“
Da sie nichts von dem heimlichen Lauscher gewusst haben konnten, fiel ihr nur eine Erklärung dafür ein, warum Awija und Eldan hätten Zyn miteinander sprechen sollen: Eldan sprach kein Cytrian, stammte also nicht von hier.
„ Ihr wisst sicher, wie Helwaner typischerweise aussehen. Ist es möglich, dass Eldan von Helwa stammte?“
„ Nein, ausgeschlossen. Seine Haut war viel zu blass dafür, auch war er blond. Alle Helwaner haben braunes Haar. Außerdem hat meine Großmutter Tira alle ihre Kinder Helwarisch gelehrt, sogar gegen die Widerstände ihres cytrianischen Manns Torren. Awija hätte also keinen Grund gehabt, Zyn mit einem Helwaner zu sprechen.“
Also stammte Eldan nicht aus Helwa, Cytrianer war er wohl auch nicht, ebenso wenig wie er, dem Aussehen nach, Elunger oder Atresser gewesen sein konnte. Damit blieb nur, dass er von der noch unentdeckten Insel westlich von Helwa stammte. Endlich hatte sie einen Anhaltspunkt. Wenn ihr Vater Liwam nach seinen Wurzeln suchte, so versuchte er gewiss, Martul zu erreichen. Wenn sie ihn finden wollte, so musste sie ebenfalls dorthin reisen.
Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass der Enkel Tiras nicht noch mehr über Eldan und Awija zu berichten wusste, dankte sie ihm und bat sich Zeit aus, über das Gehörte nachzudenken.
Endlich hatte sie wieder ein richtiges Ziel: Martul. Doch wie sollte sie dorthin gelangen. Noch nie hatte es eine Expedition dorthin gegeben. Selbst die Cytrianer, die seit mehr als einem Jahrhundert um die Existenz der anderen Länder wussten, hatten noch nie einen Versuch unternommen. Sie erinnerte sich an die Worte ihrer Großtante Süylin, die von einem Helwaner zu berichten wusste, der einmal dort gewesen war. Warum hatte es danach nie wieder jemand versucht? Das galt es nun herauszufinden.
Nach mehreren Tagen in den Regierungsarchiven sahen die Gelehrten Ihel fast schon als eine von ihnen an. Ihre Wissbegierde stand der ihren auch in keiner Weise nach. Doch sie war nicht wie die Wissenschaftler getrieben von dem Wunsch, so viel Wissen wie möglich zu sammeln, vielmehr waren ihre Bemühungen auf einen ganz bestimmten Zweck ausgerichtet: Sie wollte mehr über Martul erfahren. Offenbar aber war dies ein Thema, das von den cytrianischen Gelehrten bisher sträflich vernachlässigt worden war. Während über Elung und selbst über Atress, zu dem die Cytrianer noch gar keinen direkten Kontakt hatten, schon umfangreiche Aufzeichnungen existierten, gab es über Martul kaum mehr als die Anerkennung seiner Existenz. Alles, was sie bisher hatte in Erfahrung bringen können, war die Tatsache, dass auf der Fläche des heutigen Martuls vor der sogenannten Zeitenwende, dem Jahr Null der Zeitrechnung, zwei Länder existiert hatten, Margan und Tulup. Jetzt aber gab es nur noch ein Volk, das dort isoliert von der Außenwelt lebte. Von einem umgebenden Nebel war die Rede. Dieser war wohl von den Göttern geschaffen worden, um das Land von den übrigen zu trennen. Ihel hatte schon zuvor von den Nebelwänden auf dem Meer gehört,
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