WELTEN-NEBEL
die die Länder voneinander getrennt hatten, bevor es Zada, Darija und Madia gelang, die Völker Helwas und Cytrias wieder zusammenzuführen. Doch während das Meer nun frei von dem trennenden Welten-Nebel war, umgab er Martul wohl noch immer. Deshalb versuchte niemand, das Land zu erreichen. Aber diesem einen Helwaner musste es dennoch irgendwie gelungen sein.
Mond 12 Jahr 3736
Herbst/ Winter
Aaran, Cytria
Zwei Monde waren über ihre Recherchen verstrichen und noch immer wusste sie nicht, wie sie Martul erreichen konnte. Selbst die gelehrtesten Männer und Frauen Cytrias konnten ihr keine Antwort geben. Frustriert und ra tlos suchte sie schließlich den Ratschluss der Götter. Im Tempel Aarans betete sie im Angesicht des Heiligen Würfels. All ihre Fragen brachte sie vor die Götter, bat sie um die Gewissheit, noch immer auf dem richtigen Weg zu sein. In den letzten Tagen hatte sie zunehmend daran gezweifelt, hatte das Gefühl, sich in all dem Wissen, was sie im Laufe ihrer Suche angehäuft hatte, zu verlieren. Vielleicht hatte sie schon lange gefunden, wonach sie suchte, hatte es nur übersehen. Oder sie suchte schlichtweg an der falschen Stelle.
Das Gebet half zwar, ihre Zweifel und Sorgen, die bisher versteckt in ihr gearbeitet hatten, einmal klar zu formulieren, doch es bescherte ihr keine Antwort von den Göttern. Nicht, dass sie tatsächlich damit gerechnet hätte. In ihrer Zeit in Cytria hatte sie viel über das Wirken der Götter erfahren, und sie hatte erkannt, dass nur wenige Auserwählte jemals direkte Antworten von den Göttern erhielten. Sie selbst war es wohl kaum wert, ihr Anliegen zu unbedeutend, als dass die Götter sich ihr auf diese Art widmeten. Sie würde daher auf die kleinen Zeichen warten müssen, die die Götter gewöhnlichen Menschen wie ihr als Antwort auf ihre Gebete zu schicken pflegten.
Sie erhob sich von den Knien, ließ ihren Blick durch den Tempel schweifen, doch plötzlich trübte sich ihr Blick. Bilder entstanden vor ihrem inneren Auge: ein Wald, ein schwarzer Würfel, eine Wüste, eine Oase, ein Gebirge, ein Haus, ein Greis, ein Mann. Noch bevor sie sich die Bilder in allen Einzelheiten einprägen konnte, begannen sie auch schon wieder, sich aufzulösen, wurden von den nächsten abgelöst. Nur das letzte konnte sie etwas länger betrachten. Dieser Mann, es war ihr, als schaue er sie mit seinen braunen Augen direkt an. Sein blondes Haar war voll, doch an den Schläfen bereits sichtbar ergraut, seine olivfarbene Haut wies schon einige Falten auf. Er war gewiss schon mehr als fünfzig Jahre alt. Noch immer blickte er sie an, seine Augen waren voller Güte und Liebe. Die Erkenntnis traf sie wie ein Schlag: Dieses Gesicht gehörte ihrem Vater.
Die Vision endete so abrupt, wie sie begonnen hatte. Sie taumelte, fing sich aber sogleich wieder. Die leisen Stimmen der Priesterinnen, die gemurmelten Gebete der anderen Gläubigen, drangen an ihr Ohr, erschienen ihr plötzlich über alle Maßen laut. Eilends verließ sie den Tempel, floh aus der Stadt, deren mittäglicher Trubel ihr unerträglich war. Erst als sie die Tore passierte, kam sie wieder vollends zu sich. Sie stoppte. Ihre schnellen Schritte hatten sie außer Atem geraten lassen. Es nahm einige Zeit in Anspruch, bis sich ihr Herzschlag wieder beruhigt hatte. Bedächtigen Schrittes kehrte sie in die Stadt zurück, zog sich in ihr Quartier im Gästehaus der Regierung zurück, verriegelte die Tür. Es verlangte sie nach absoluter Ruhe. Eine Weile saß sie einfach nur da, auf dem blanken Boden, die Kraft, sich auf einen Stuhl zu setzen, fehlte ihr. Die innere Leere, die sie verspürte, bildete einen heftigen Kontrast zu dem Gefühl der Überfülle, das gemeinsam mit der Vision über sie gekommen war.
Dann aber konnte sie endlich wieder klar denken. Sie griff zu ihren Schreibmaterialien und begann, zunächst wahllos und ungeordnet, alles niederzuschreiben, was ihr von den Bildern in Erinnerung geblieben war. Bisweilen fügte sie auch kleine Zeichnungen hinzu. Anfangs arbeitete sie schnell und konzentriert, getrieben von der Angst, etwas zu vergessen. Bald aber merkte sie, dass sie fähig war, sich die Bilder wieder und wieder in allen Details vor Augen zu rufen. Daraufhin verringerte sie ihr Arbeitstempo, ließ aber in ihrer Konzentration nicht nach. Erst die einbrechende Dunkelheit sorgte dafür, dass sie ihre Arbeit unterbrach. Sie wusste, dass die Zeit für die Abendmahlzeit nahte, daher legte sie ihre Aufzeichnungen
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