WELTEN-NEBEL
Aaran statt in Jal tun würde, hatte sie kurz zögern lassen. Aber Felkans Begeisterung für diese Aufgabe ließ sie die Trennung von ihrer Familie verschmerzen. Sie konnte gut verstehen, warum er das Angebot gerne annehmen wollte.
Noch am Abend ließen sie dem Rat ihren Entschluss zukommen. In ihrem Schreiben baten sie darum, ihren Dienst erst in zwei Monden antreten zu müssen. Zuvor wollten sie nochmals nach Jal reisen, um dort im Kreise von Darijas Familie zu heiraten.
Jahr 3620 Mond 5 Tag 21
Tempel-Oase
Sie hatte viele verschiedene Muster ausprobieren müssen, bis sie die Worte auf dem Boden des Tempels in eine sinnvolle Reihenfolge gebracht hatte. Drei Tage waren darüber verstrichen, doch nun hatte sie einen oder sogar zwei sinnvolle Satzanfänge gefunden. Heute würde sie das Rätsel des Wüstentempels lösen. Wie jeden Morgen hatte sie den Sand vom Boden gefegt. Nun lag der Text offen vor ihr. Sie war aufgeregt und hoffnungsvoll. Würden die Götter ihre Mühen belohnen? Sie verbot sich den Gedanken daran, dass der Text ohne Bedeutung sein könnte. Nach all dem Leid und dem großen Verlust, den sie hatte erleiden müssen, hätte ihr das jeden Lebenswillen geraubt.
Ihr Mund war trocken und sie zitterte, obwohl die Sonne vom Himmel herabbrannte. Sie ging, um etwas Wasser zu trinken. Als sie sich erfrischt hatte, konnte sie den Moment der Wahrheit nicht mehr hinauszögern. Sie folgte dem gefundenen Muster. Zunächst ging sie vom siebten Feld der ersten Zeile nach rechts, bis sie die Wand erreichte, dann ging sie einen Schritt vor und folgte der zweiten Zeile vom zwölften zum siebten Feld. Auf diese Weise fuhr sie fort, bis sie die zwölfte Zeile erreicht hatte. Die zweiundsiebzig Worte ergaben einen Text, der haargenau beschrieb, was sie in der letzten Zeit durchlitten hatte:
Nah und fern, vertraut und fremd, dennoch öffnete sie ihr Herz. Doch die Götter forderten ein Opfer und nahmen ihr ihre Liebe. Sie stürzte in tiefe Trauer und der Schmerz war übermächtig. Sie aber fand zu sich selbst und ihrer Stärke. Obgleich sie nichts zu erwarten hatte, stellte sie sich in den Dienst der Götter. Ihr Einsatz half dem, den sie liebte. Die Götter vergalten ihr ihre Opfer und linderten ihre Seelenqual.
Nur die letzten zwei Sätze deckten sich nicht mit ihren Erinnerungen. Wie konnte das, was sie hier tat, Einfluss auf Elec haben. Elec war tot, oder etwa doch nicht. Auch war ihre Seelenpein keineswegs verschwunden, bestenfalls verdrängt. Sollte dies ein Versprechen der Götter sein?
Vielleicht würde der zweite Teil des Textes Antworten liefern.
Sie begann auf dem sechsten Feld der ersten Zeile und durchschritt diese Tempelhälfte spiegelverkehrt zur rechten. Dabei ergab sich Wort für Wort ein Text, der ihr den Atem verschlug, noch bevor sie ihn beendet hatte:
Die gemeinsame Reise öffnete ihm Augen und Herz für sein Land. Doch die Götter rissen ihn los von dem, für den sein Herz schlug. Sein Lebensmut sank und er verfluchte die Götter ob dieser Ungerechtigkeit. Dennoch wollte er das Vermächtnis bewahren. Er verschloss seine Gefühle, die Trauer, die Wut, den Schmerz, und tat, was getan werden musste, um den Traum seiner verlorenen Liebe erfüllen zu können. Die Liebe wird den Welten-Nebel zerreißen.
Wenn das wahr wäre, so war Elec am Leben. Ihr Herz machte einen Sprung. Er war am Leben und dabei, die Aufgabe, die die Götter ihnen gestellt hatten, zu vollenden. Außerdem sprach der Text davon, dass auch er sie liebte. Wenn sie nur einen Weg hätte, zu ihm zu gelangen. Aber ohne Proviant und Wasserschläuche würde sie nicht aus der Wüste herauskommen. Noch immer stand sie auf dem sechsten Feld der zwölften Zeile. Hier stießen die beiden Texte aneinander. War dies ein Zeichen. Würden sie wieder zusammenfinden? Ganz in Gedanken trat sie mit einem Fuß auf das siebte Feld der Zeile. Plötzlich erstrahlte alles in einem hellen Licht. Sie schwebte in göttlichem Licht und Klang.
Jahr 3620 Mond 5 Tag 21
Palast in Heet
Die Trauerzeit für seinen Vater war vorüber. Heute würde er zum König gekrönt werden. Die Feierlichkeiten dazu würden erst am Abend stattfinden. Den Tag wollte er im Palastgarten verbringen, um etwas allein zu sein. Als er den Daro-Baum erreichte, lehnte er sich an den Stamm. Hier hatte er Mawen vor nur wenigen Monden getroffen. Zum ersten Mal seit Tagen gestattete er sich einen Gedanken an den Gelehrten. Er weinte. Erstmals vergoss er Tränen über seinen
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