Weltenfresser - Die Tränen der Medusa (German Edition)
Teil von ihr. O sie hatte es im Kloster angeblickt - und es hatte ihren Blick erwidert. In der Nacht lauerte es in dunklen Ecken. Bei Sturm flog es zwischen den Schwingen der Windbräute. Am Tag versteckte es sich im Schatten der Bäume oder den düsteren Festungen alter Baumeister, deren Knochen längst zu Staub und Asche zerfallen waren. Wartete in ihren dunklen Träumen, ihren schmerzlichen Erinnerungen, nährte sich an ihrem Schmerz und ihrer Angst...
Die Frau vermisste ihre Schwester, liebte sie – und doch wachte sie nachts oft auf, schweißgebadet, panisch.
Nur sehr selten sahen sich die Schwester noch, obwohl ihre Herzen sich so sehr nach der anderen sehnten. Ihr würde es gut gehen, in der Stadt – das wusste die Frau. Ihre Schwester war gelehrig und klug. Und war nun an einem Ort, an dem ihre Gaben würden wachsen können. Bewacht von wachsamen Augen - die doch nichts sehen konnten. Wie soll man auch etwas erkennen, das so dunkel ist, dass es jeden Lichtstrahl frisst? Und jeden Tag wuchs die Finsternis in ihrer Schwester, nährte sich und wuchs und wuchs... und würde eines Tages die Welt in Blut und Feuer tauchen.
Die Frau hätte in die Stadt reisen können. Hätte alles erzählen können. Hätte alle warnen können. Hätte ihnen vom dunklen Kubus erzählen können. Hätte von der Melodie darin erzählen können, von dem, was ihr der Wind zuflüsterte.
Hätte.
Eine Wölfin gesellte sich winselnd zur ihr, legte sich zu den Füßen der Frau. Verträumt strich sie durch das raue, schwarze Fell. Sie betrachtete die tiefen gelben Augen des Tieres, welche sie zärtlich beobachteten und lauschte dem gleichmäßigen Atem des Tieres.
Die Frau liebte die Natur. Sie liebte die Tiere, welche sie manchmal besuchen kamen. In Tieren war niemals Bosheit. Sie waren nicht grausam, kannten keine Heimtücke, keine Vorurteile und töteten nur, um sich zu nähren. Fanden keinen Gefallen daran, ein anderes Tier zu martern. Ihr Blick schweifte über die zahlreichen Krähen, welche die Bäume um ihre Hütte bewohnten. Manchmal kamen sie in kleinen Gruppen und holten sich Nüsse oder Würmchen, welche die Frau ihnen anbot.
Die Wölfin hob den Kopf und blickte die Frau lange an. Ein Winseln drang aus der Kehle des Tieres, beantwortet von einer liebevollen Hand. All die Sommer und Winter, welche die Frau hier allein in den Bergen verbracht hatte, war sie nie einsam gewesen. Was hätte ihr auch fehlen sollen?
Sie spielte mit dem Wörtchen hätte wie ein unschuldiges Kind. Genoss ein seltsames, berauschendes Gefühl, welches von diesem Wörtchen aufstieg und in sie von innen wärmte.
Hielt diesen einen, unausgesprochenen Faden fest in der Hand – und ließ ihn doch fallen.
Ließ dem Schicksal seinen Lauf.
***
Währen der nächsten vier Tage hatte Tyark trotz der drohenden Gefahr durch die Truppen der Gräfin und dem harten Marsch durch den Wald viel Zeit, über seine Träume nachzudenken. Er war froh über seinen Entschluss, Zaja von ihnen zu erzählen, denn sie erwies sich als kluge und erfahrene Deuterin von Träumen. Daher stand für sie recht schnell fest: »Ich glaube nicht, dass diese... Bilder, Gefühle und Szenen wirklich Träume sind. Ich denke eher, dass es eine Art Geschichte ist, die dir erzählt wird. Oder nein, vielleicht sogar eher eine Botschaft?«, sie blickte ihn nachdenklich an, »Die Frage ist in der Tat aber, warum die Großen Alten dir diese Visionen schicken. Was bezwecken Sie damit?«
Tyark nickte gedankenverloren. Je länger er diese Träume hatte, desto schwerer konnte er sich von ihnen lösen. Selbst jetzt, mit der Mittagssonne hoch am Himmel, wurde er die Empfindungen nicht los, die nicht die seinen waren. Die Empfindungen dieser schwarzhaarigen Frau. Tyark ahnte, ohne zu verstehen, warum, dass etwas Schreckliches passiert sein musste.
Sie hatten währen dieser vier Tage keine weiteren unangenehme Begegnungen mit den Truppen der Gräfin gehabt. Arana war immer wieder zurückgeblieben oder war vorausgerannt und hatte Ausschau nach eventuellen Verfolgern gehalten. Zwar hatte sie manchmal Anzeichen dafür gefunden, dass auch noch andere Reisende unterwegs waren, doch Truppen hatte sie nicht ausmachen können.
Schließlich begann der Wald damit, sich langsam zu wandeln. Es waren irgendwann weniger Nadelbäume, dafür aber umso mehr Laubbäume zu sehen. Auch das Unterholz war deutlich dichter geworden, sodass sie immer langsamer vorankamen. Raphael hatte allen befohlen, Rüstungen zu tragen,
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