WELTENTOR 2013 - Fantasy (German Edition)
beugte sich Kirke zu ihrem Gast herüber, reichte ihm süße Trauben und exotische Früchte (die er unauffällig ver-schwinden ließ) und flüsterte ihm verliebte Verse ins Ohr.
Der Moment war günstig.
Ich vergewisserte mich noch einmal, dass niemand mir Beachtung schenkte, und schlich auf leisen Sohlen in den Palast der Göttin. Ein Ziegenbock folgte mir. Ich ließ den Eingangsbereich mit seinen mar-mornen Statuen hinter mir, durchquerte einen opulent ausstaffierten Wohnraum und gelangte in die geräumige Küche.
Der Ziegenbock folgte mir noch immer. Ich wedelte scheuchend mit den Händen. Doch der Ziegenbock blieb. Schulterzuckend nahm ich den Raum näher in Augenschein. In Regalen und Schränken standen tönerne Krüge in den verschiedensten Größen und Formen, Ampho -ren, Vasen, Töpfe, Kannen, kleine Fläschchen und Tiegel. Aus man-chen stieg farbiger Rauch empor, andere waren bis zum Rand gefüllt mit geheimnisvollen Flüssigkeiten.
Die Arbeitsstätte einer Zauberin. Ich war mir sicher, dass Kirke hier einen Vorrat ihres Verwandlungselixiers aufbewahrte. Aber wo mochte sie es versteckt haben?
Vorsichtig öffnete ich einen Schrank. Ein Beuteltier sprang mir ins Gesicht. Ich taumelte rückwärts und stieß gegen die Wand. Das nicht minder erschrockene Tier sauste davon und entkam auf ein entlegenes Regalbrett, wobei es auf seiner übereilten Flucht eine Reihe bemalter Krüge zur Seite stieß. Zwei Gefäße zerschellten am Boden, und wo immer ihr flüssiger Inhalt den blanken Stein berührte, sprossen dut-zende bunter Blumen. Ein weiterer Krug kippte um und hinterließ ein grünliches Rinnsal, das langsam am Regal entlang nach unten sickerte.
Einige Schrecksekunden lang verharrte ich in atemloser Stille.
Lauschte.
Nichts geschah.
Der Ziegenbock knabberte an meinen Sandalen. Tropfen der entrin-nenden Flüssigkeit rieselten auf seinen gehörnten Kopf herab.
Bevor ich mit meiner Suche fortfahren konnte, ging ein jähes Rucken und Zittern durch den Körper des Tieres. Seine Gestalt veränderte sich, wuchs in die Länge, und mit einem Mal befand ich mich Auge in Auge mit einem breitschultrigen, wettergegerbten Fischer.
„Ich dachte schon, ich müsste für immer in diesem Körper bleiben“, meckerte der Mann erleichtert und scharrte mit dem Fuß über den Boden.
Ich schaute ihn konsterniert an. Dann durchfuhr es mich siedend heiß: „Das Elixier!“ Schnell griff ich nach dem umgestürzten Krug und füllte den Rest der wundersamen Flüssigkeit in einen leeren Flakon. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“ Ich klemmte mir das Gefäß unter den Arm, griff im Vorbeigehen nach mehreren kleinen Fläschchen und bedeutete dem ehemaligen Ziegenbock, mir zu folgen. „Wir müssen deine Gefährten befreien und diese ungastliche Insel verlassen, bevor Kirkes Zorn uns ereilt.“
Lautlos ließen wir das glanzvolle Anwesen hinter uns und liefen gerade -wegs in die Arme der wütenden Kirke.
„Wie kannst du es wagen?“ Die Stimme der Zauberin grollte wie Don -ner. Blitze funkelten in ihren Augen. Das wellige Haar umloderte in tanzenden Flammen ihr Gesicht. Hinter ihrem Rücken gestikulierte Nikios hektisch mit seinen Händen. Ohne zu zögern warf ich ihm den Flakon mit dem Verwandlungselixier zu, sodann stellte ich mich der Göttin mit blanker Klinge entgegen.
Kirke schwang drohend ihren Zauberstab. „Ich werde dich in eine Kröte verwandeln und dafür sorgen, dass du den Rest deines kurzen, sterblichen Lebens in der Gesellschaft von Karpfen und Wasserläufern verbringst.“
Ich wich ihrem Angriff aus, wirbelte herum und setzte zum nächsten Schlag an. Stab traf auf Schwert. Funken stoben. Ein Zischen und Gurgeln erfüllte die Luft. Plötzlich schien die Klinge in meiner Hand l ebendig zu werden, sich um meine Finger zu winden, meinen Unterarm emporzukriechen. Als ich sie reflexartig fallen ließ, verwandelte sie sich in einen gestreiften Gecko, der den schuppigen Kopf in die Höhe reckte, mich noch einmal beleidigt anschaute und sich schließlich langsam von dannen trollte. „He, komm zurück!“, rief ich ihm verärgert hinterher.
Der Gecko schwieg.
Die Zauberin hingegen lachte. Und diesmal war es ein hässlicher, ver-zerrter Laut. Kurzerhand warf ich eines der gestohlenen Fläschchen nach ihr. Und ihr Haar löste sich auf in einem Schwarm flatternder Schmetterlinge.
„Geh, hol deine Gefährten“, raunte ich dem Fischersmann zu, der hin-ter mir in Deckung gegangen war. „Wir kehren diesem trostlosen
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