WELTENTOR 2013 - Fantasy (German Edition)
Geschickt fasste sie nach dem freien Ende des Kletterseils. Mit geschulten Hand -griffen glitt sie hinab in die Tiefe und landete endlich auf dem kleinen Balkon. Ein kurzer Schwung, im richtigen Moment ein kleiner Ruck, und das Seil löste sich von seiner Befestigung weit oben. Über der Brüstung erschien das zornesrote Gesicht Friedrich von Jarifs. Er schrie ihr Flüche und Verwünschungen hinterher. Ein Schatten löste sich vom Turm und glitt ihr hinterher.
Inzwischen hatte Sesania das Seil für den zweiten Teil ihres Abstiegs verknotet. Sie kletterte bereits über das Balkongeländer, als das dämo -nische Wesen sie einholte. Mit Tritten und Schlägen konnte sie sich das Untier vom Leib halten. Sie hatte es bereits fast bis zum Boden ge-schafft, als plötzlich ein Flammenmeer über ihr hereinbrach. Das Seil und der Dämon verwandelten sich augenblicklich zu Asche. Sesania fiel die letzten Meter. Von der Feuersbrunst hatte sie nichts gespürt. Als ihre Füße den Boden berührten, rollte sie sich geschickt ab und kam unverletzt wieder auf die Beine. Sesania rannte, warf keinen Blick mehr zurück, bis sie die äußere Mauer erreichte. Das Hindernis war schnell überwunden und die Diebin verschwand in den verwinkelten Gassen der Stadt.
Schwer atmend lehnte sie mit dem Rücken an einer Häuserwand. Lan gsam wanderte ihre Hand zu einer dünnen Lederschnur, die sie um den Hals trug. Mit einem leichten Zittern zog sie daran und ein silbernes Amulett kam zum Vorschein. Es hatte die Form eines zusammen-gerollten Drachens. In der Mitte war ein roter Stein eingebettet.
„ Ein mächtiges Amulett, das seinen Träger vor Zaubern schützt! Danke dir Meister Jarif, ohne dieses hätte ich es nicht geschafft.“
Sesania begann zu lachen, vor Erleichterung, vor Glück und aus Fre ude, dass sie dem Meister des Turmes getrotzt hatte. Leise murmelte sie nur zu sich selbst: „Nichts ist vor mir sicher, denn ich war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.“
Geisterrache
Paul Tobias Dahlman n
In den Landen der Inseln von Aimes war es von jeher üblich, alle jungen Männer mit dem Erreichen des sechzehnten Lebensjahres zu töten und in einer langen Zeremonie zu verspeisen, um sich solcherart der Möglichkeit zu erwehren, dass jemals die Männer die Frauen beherrschten. Auch Fremdlingen von außerhalb drohte ein solches Schicksal und so kam es nur selten dazu, dass überhaupt ein Austausch zwischen dem Inselreiche und anderen Ländern zustande kam.
Und kein gewöhnlicher Mann hätte es darum jemals gewagt, einen Fuß auf den Boden von Aimes und somit sein Leben aufs Spiel zu setzen. Enbera jedoch war zwar ein Mann, wie er ein Magier war, doch war er auch ein Geist, welcher sich zu Lebzeiten selbst zum Geisterdasein verdammt hatte. Deshalb allein brauchte er die Sitten dieser Inseln nicht zu fürchten und konnte sie ohne jede Gefahr für sich bereisen.
So trieb ihn seine Neugier in die fernen Winkel und Schluchten und zerborstenen Klippen an jenen Gestaden und wenig nur blieb ihm dort verborgen. Er ging hierhin und dorthin und verwunderte sich über die Dörfer, in denen Frauen mittleren Alters die Ochsen und Kinder gleichermaßen mit Peitschen antrieben, um die Felder zu bestellen.
Schwer duckten sich die Jungen unter den Knuten der Alten und tiefer noch bückten sie sich, wenn sie die großen Opfersteine auf den ein -samen Hügeln sahen, deren Oberfläche mit tiefen Rillen überzogen war, in welchen altes, eingetrocknetes Blut klebte. Dies lehrte die Men-schen das Fürchten.
Selten nur aber hatte Enbera Gelegenheit, dem Unterricht zu lauschen, den die Mütter ihren Töchtern auf weiten, steingefassten Plätzen vor solchen Dörfern erteilten. Er selbst blieb dabei unsichtbar für die Blicke der Menschen und nicht mehr als ein kalter Schauer berührte dann die Herzen der Mädchen, wenn er bei ihnen stand. Doch dies war jenen kein unbekannter Schrecken, denn ein ähnliches Gefühl ergriff so manche von ihnen, wenn sie nach den Opfersteinen sahen.
Endlich aber gelang es Enbera auch einmal, einer Rede einer Lehrerin zu lauschen, welche über den Sinn der Menschenopfer sprach. Und diese sagte da ihren Schülerinnen aus ihrer Sicht, wie es stand um die Welt, und wie es um sie stehen sollte. Sie sprach da mit großem Eifer von den Männern und von den Frauen und dass die einen die anderen unterjochen würden, wenn man ihnen darin nicht zuvorkäme.
„ Für die Wahrheit aber
Weitere Kostenlose Bücher