Wen das Grab ruft
einem Inferno aus Druck, Staub und Krach.
Ich lebe noch! Das war das erste, was sie denken konnte. Sie lebte tatsächlich, die Granate hatte es nicht geschafft, sie zu zerstören. Etwas pochte hinter ihren Schläfen. Es war das Blut, das so vehement durch die Adern schoss, und auch den Herzschlag spürte sie deutlich. Ich lebe noch! Dieser gedankliche Schrei durchtoste ihr Inneres, und sie fühlte auch die Hände der Kinder über ihren Körper gleiten, hörte ihre Stimmen, die nach der Mutter riefen, und sie hätte in diesen für sie so schlimmen Augenblicken weinen können vor Glück.
»Mummy, Mummy, du musst aufstehen! Der wird noch töten. Du musst! Komm, wir wollen…«
Es waren die Kinder, die ihre Energie und den Willen wieder anstachelten. Die beiden hatten ja so recht. Sie konnte und durfte auf keinen Fall liegen bleiben.
Es fiel ihr schwer, sich aufzustützen. Erkennen konnte sie nicht viel, da sie in Wolken von Staub eingehüllt waren. Er drang durch den Mund, durch die Nasenlöcher, kratzte in ihrem Rachen, so dass sie husten musste. Kevin und Frank wollten der Mutter helfen. Sie fassten sie unter und stützten sie dabei ab.
Und dann spürte sie den Schmerz. Er hüllte ihre rechte Hüfte und auch einen großen Teil des Beines ein. Scharf und stechend war er, als hätte jemand mit Messein in das Fleisch gestochen.
»Mummy, du blutest!« Es war Frank, der gerufen hatte und Ellen damit zwang, an sich herabzuschauen.
Den Kopf hatte sie nach rechts gedreht. Ihr Sohn hatte nicht gelogen. Sie war von einem Splitter getroffen worden. An der Hüfte hatte er sie erwischt und dort eine stark blutende Wunde gerissen, aber der Schmerz zog sich bis ins Bein.
Auftreten konnte sie kaum, die Jungen mussten sie stützen, und sie drehte den Kopf, während sie eine Hand ballte, den Arm hob und dorthin drohte, wo sich ihr Haus befand und sich die Gestalt ihres Mannes hinter dem noch erleuchteten Fenster abzeichnete.
»Du Hundesohn!« brachte sie ächzend über die Lippen. »Du verfluchter Hundesohn. Deine eigene Familie wolltest du ausrotten! Die Strafe des Himmels soll über dich kommen und dich vernichten, du Monster. Ich verfluche dich!«
Ellen Long kannte ihre eigene Stimme nicht mehr, so hart hatte sie die Worte hervorgestoßen, während ihre beiden Söhne die Mutter erschreckt anschauten. Solche Sätze hatten sie noch nie aus dem Mund der Mutter vernommen. Ellen stand auf der Straße, obwohl sie sich kaum auf den Beinen halten konnte, drohte hinüber zu ihrem Haus, vor dessen Fassade träge Wolken entlang trieben, die ihren Ursprung in dem Krater besaßen, der sich auf der Straßenmitte befand.
Innerhalb der Staubwolke schimmerte das Fenster wie ein helles, an den Rändern zerfaserndes Auge, in dessen Innern sich deutlich die Gestalt des anderen abzeichnete. Noch lauerte das Monstrum… Wahrscheinlich wollte es das Haus überhaupt nicht verlassen, das so etwas wie seine Heimat war. Aber Ellen konnte nicht länger auf der Straße stehen bleiben. Wenn sie das tat, brachte sie unter Umständen die Kinder in Gefahr, und so etwas wollte sie auf keinen Fall. Wieder kam ihr die Polizei in den Sinn. Sie hatte sich vorgenommen, die Leute anzurufen, das wollte sie auch durchführen, denn kein anderer konnte ihr sonst helfen.
In ihr Haus traute sie sich nicht zurück, zudem war das Telefon zerstört worden, aber bei den Nachbarn musste sich etwas rühren. Ellen hatte sich nicht getäuscht. Plötzlich hörte sie die lauten Rufe über die Straße schallen, und als sie den Kopf drehte, sah sie das Blitzen einer Taschenlampe.
»Mummy, da kommen die Olsons!«
Ellen nickte. Ihr Mund stand offen. Nur schwerfällig bewegte sie den Kopf. »Ich weiß, Kinder, lauft hin…«
Die Jungen rannten, während sie selbst schwankend stehen blieb und spürte, wie das Blut die Wunde verließ und an ihrem Bein nach unten rann. Auch sie wollte weg, setzte den ersten zögernden Schritt, den zweiten, belastete ihr verletztes Bein dabei und brach mit einem Wehlaut auf den Lippen zusammen. Der Boden kam rasend schnell näher. Er drehte sich sogar, und Ellen merkte kaum, dass sie aufschlug, sie befand sich am Ende der Kraft und in einem Zustand zwischen Wachsein und Bewusstlosigkeit.
Die Schritte vernahm sie nicht mehr, nur die Stimmen, die sie ansprachen und wie durch dicken Nebel gefiltert an ihre Ohren drangen.
»Meine Güte, das ist ja Ellen. Was ist passiert?«
»Mummy, Mummy!« Das war Frank, der gerufen hatte. Weder dem Nachbarn Olson
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