Wen das Grab ruft
hätte mit ihren Kindern wegrennen müssen. Sie wunderte sich selbst darüber, dass sie es nicht tat, statt dessen auf der Straße stehen blieb und zu ihrem Haus hinschaute. Es war bestimmt die Faszination des Bösen, des Anderen und des Unheimlichen, die sie umfangen hielt. Möglicherweise auch die Tatsache, dass sie in einer relativen Sicherheit von dem Ort des Geschehens entfernt stand. Und so beobachtete sie weiter. Die Nacht umgab sie sowie die Kinder mit ihrer Dunkelheit. Von den Nachbarn zeigte sich noch immer niemand, und die vom Wind bewegten Wolken tanzten hoch oben am Himmel ihren Reigen.
Ein Schatten erschien. Er durchwanderte das Rechteck des hellen Fensters. Düster und bedrohlich wirkte er, wobei sich seine Umrisse scharf vom hellen Licht des Fensters abhoben.
Ellen Long kannte jede Bewegung ihres Gatten. Schließlich waren die beiden lange genug verheiratet. Und wie sich der Typ am Fenster bewegte, konnte das nur ihr Mann sein. Beim Gehen drückte er die rechte Schulter stets ein wenig nach vom. Und auch die Bewegung, mit der er über sein Haar fuhr, war so typisch für Kevin. Ellen flüsterte den Namen ihres Mannes, ohne es eigentlich selbst zu hören. Dazu war sie einfach zu geschockt, denn dieser Zustand hielt an, und auch die Kinder sprachen nicht. Wie ihre Mutter schauten sie zum Haus hoch. Bis Frank seinen Mund öffnete. »Aber das ist doch Daddy!« hauchte er.
Ellen ging dieser Satz unter die Haut. Ja, es war Daddy. Ein veränderter Daddy. Nur zur Hälfte ein Mensch, zur anderen ein schreckliches Monstrum, das sich nicht scheute, mit Handgranaten auf seine eigene Familie zu werfen.
Und es besaß noch Nachschub.
Sehr genau erkannte die Frau die Bewegungen des Mannes am Fenster. Sie sah, wie er seinen Arm hob. Für einen Moment wurde dabei die untere Hälfte des knochenbleichen Gesichts verdeckt, dann umkrallten die Finger den Verschluss des Fensters und drehten ihn um. Der Rahmen klemmte ein wenig, das wusste Ellen auch, und auch jetzt änderte sich daran nichts. Kevin zog das Fenster auf. Sie hatte das Geräusch vernommen und sah, wie der andere seinen Oberkörper ein wenig zur Seite drehte, damit er direkt auf die Straße schauen konnte.
Sein Blick traf Ellen! Für einen Moment hatte sie das Gefühl, als würde er nur sie ansehen.
Sie starrte direkt in das hässliche Gesicht, diese Knochenfratze eines halbverwesten lebenden Leichnams, denn eine andere Erklärung besaß sie für diesen unheimlichen Gast nicht.
Und sie sah sogar das Grinsen. Das alles zeichnete sich scharf und deutlich ab, wobei über Ellens Rücken eine Gänsehaut floss. Dann bewegte er den rechten Arm.
Die Frau auf der Straße erschrak. Sie hatte die Bewegung schon einmal gesehen, und sie hörte auch die fragende Stimme ihres Sohnes Kevin.
»Was macht Daddy da?«
Ja, was machte er? Er würde kein Pardon kennen, das Höllenei vom Gürtel lösen und schleudern. Schon hielt er die Granate in der Hand. Fast genüsslich war die Bewegung, mit der er den Stift löste und die Waffe damit scharf machte. Einige Sekunden konnten noch vergehen, dann…
»Weg!« Es war ein Schrei, der sich von den Lippen der Frau löste und auch von den Kindern verstanden wurde. Längst hatten diese erkannt, dass es kein Spiel mehr war. Diese Figur, die aussah wie ihr Vater und es eigentlich doch nicht war, wollte töten.
Ellen warf sich zur Seite. Die Bewegungen, mit der sie das tat, kamen ihr selbst langsam und irgendwie schwerfällig vor. Sie breitete die Arme aus, umfasste ihre beiden Kinder und stolperte in die entgegengesetzte Richtung weg. Dabei traute sie sich nicht, zurückzuschauen. Sie wollte das Grauen gar nicht sehen, und sie hoffte nur, dass die explodierende Granate sie und die Kinder nicht tötete.
Unter ihren Füßen huschte der Boden hinweg. Trotz ihrer Angst hörte sie den Aufschlag des Hölleneis, und dann krachte es. Die Handgranate zerplatzte, und die folgende Druckwelle wurde in keine Richtung hin gebremst. Sie fegte über die Fahrbahn und erfasste auch die drei Menschen.
Ellen Long hörte ihre beiden Kinder schreien, während ihr die Beine vom Boden gerissen wurden. Auf einmal schwebte sie in der Luft und ruderte mit den Armen wie ein Schwimmer im Wasser, während die heiße Angst ihr Herz umkrallt hielt.
Der Aufschlag traf sie brutal. Etwas schlug gegen ihren Kopf. Sie spürte auch auf dem Rücken den Druck und war sicher, dass einer der beiden Jungen über sie gefallen war. Dann ging die Welt für sie unter in
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