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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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zwischen sich, die Köpfe darübergebeugt, und starrten schweigend auf die dunkle Anzeige.
    »Was jetzt?«, fragte Blue.
    Gansey sah auf den Boden zu ihren Füßen, direkt unter dem Gerät. »Geh mal einen Schritt zur Seite. Da …«
    »Oh Gott«, sagte Blue und zuckte zurück. Und wieder: »Oh …«
    Doch das letzte Wort brachte sie nicht mehr heraus, denn sie war gerade von etwas heruntergestiegen, das erschreckend an einen menschlichen Armknochen erinnerte. Gansey kniete sich als Erster hin und schob das Laub von dem Knochen herunter, unter dem noch ein zweiter zum Vorschein kam. Eine verdreckte Uhr umschloss das Handgelenk. Alles wirkte inszeniert, ein Skelett mitten im Wald.
    Das kann doch nicht wahr sein.
    »Oh nein.« Blue keuchte. »Nicht anfassen. Vielleicht sind da Fingerabdrücke drauf.«
    Doch die Leiche befand sich schon längst in einem Zustand jenseits aller Fingerabdrücke. Die Knochen waren sauber wie Museumsstücke, das Fleisch seit Langem verrottet und von der Kleidung waren nur noch einzelne Fäden übrig. Behutsam, ein Blatt nach dem anderen, legte Gansey das gesamte Skelett frei. Gekrümmt lag es da, ein Bein angezogen, die Arme zu beiden Seiten des Schädels ausgebreitet, eine zum Standbild erstarrte Tragödie. Es war, als hätte die Zeit beliebige Teile verschont und sich wiederum andere einverleibt: Die Uhr war noch da, die Hand darunter nicht. Das Hemd war verschwunden, aber eine Krawatte lag gewellt über den Hügeln und Tälern des eingesunkenen Brustkorbs. Die Schuhe waren schmutzig, ansonsten jedoch unversehrt geblieben. Auch die Socken darin waren noch erhalten, knöchelhohe Säckchen voller Fußknochen.
    Eine Wange an dem Schädel war zerschmettert. Blue fragte sich, ob es das war, was diesen Menschen das Leben gekostet hatte.
    »Gansey«, sagte Blue mit ausdrucksloser Stimme. »Das war ein Junge. Ein Aglionby-Junge.«
    Sie deutete auf seine Brust. Zwischen zwei blanken Rippen steckte ein Aglionby-Emblem, dessen Synthetikfasern der Witterung getrotzt hatten.
    Sie starrten einander über die Leiche hinweg an. Blitze erhellten ihre Gesichter von der Seite. Blue war sich plötzlich überdeutlich des Schädels unter Ganseys Haut bewusst, seiner Wangenknochen, die so dicht unter der Oberfläche lagen, hoch und kantig wie die des Todes auf der Tarotkarte.
    »Wir müssen das melden«, sagte sie.
    »Warte«, hielt er sie zurück. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis er die Brieftasche unterhalb des Hüftknochens gefunden hatte. Sie war aus hochwertigem Leder, schmutzbespritzt und ausgeblichen, aber ansonsten weitgehend unbeschädigt. Gansey klappte sie auf und betrachtete die bunten Ränder der Kreditkarten auf der einen Seite. Er sah die Ecke des Führerscheins und zog ihn mit dem Daumen heraus.
    Blue hörte, wie Gansey vor nacktem Entsetzen nach Luft schnappte.
    Das Gesicht auf dem Führerschein war Noahs.

29
    U m zwanzig Uhr rief Gansey Adam in der Wohnwagenfabrik an.
    »Ich komme dich abholen«, sagte er und legte auf.
    Er hatte nicht gesagt, dass es wichtig war, doch Gansey hatte noch nie zuvor verlangt, dass Adam früher mit der Arbeit Schluss machte, also musste es das sein.
    Draußen auf dem Parkplatz wartete der Camaro, das unruhige Motorengeräusch hallte durch die Dunkelheit. Adam stieg ein. »Ich erklär’s dir, wenn wir da sind«, sagte Gansey.
    Er legte den Gang ein und trat beim Losfahren so heftig aufs Gas, dass die Hinterreifen auf dem Asphalt quietschten. Ganseys Gesichtsausdruck nach musste Ronan etwas passiert sein, dachte Adam. Vielleicht war Ronan sich letztendlich selbst passiert. Doch sie fuhren nicht zum Krankenhaus. Der Camaro brauste direkt auf den Parkplatz des Monmouth Manufacturing. Gemeinsam stiegen sie die dunkle, knarzende Treppe in den ersten Stock hinauf. Gansey stieß mit solcher Wucht die Tür auf, dass sie gegen die Wand knallte.
    »Noah!«, rief er.
    Der Raum lag schier grenzenlos im Dunkel vor ihnen. Vor den Fenstern erhob sich die Skyline des Miniatur-Henriettas. Ganseys Wecker piepte vor sich hin und mahnte einen schon längst vergangenen Zeitpunkt an.
    Adams Finger tasteten erfolglos nach dem Lichtschalter.
    »Noah!«, rief Gansey wieder. »Wir müssen reden.«
    Die Tür zu Ronans Zimmer ging auf und entließ ein Rechteck aus Licht. Ronans Silhouette erschien im Rahmen, eine Hand an der Brust geborgen, wo sich das Rabenfindelkind zwischen seine Finger duckte. Er zog sich ein schwindelerregend teures Paar Kopfhörer von den Ohren und schob sie sich

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