Wen der Rabe ruft (German Edition)
gewesen bist«, forderte Whelk.
»Wie bitte?«, erkundigte Gansey sich höflich. Er hatte auf dem Rücksitz nach dem Notizbuch gekramt und das Rascheln des Papiers hatte Whelks Stimme übertönt.
»Komm mir ja nicht frech«, fauchte Whelk. »Die Polizei hat in der Schule angerufen. Ich fasse es nicht. Nach sieben Jahren. Die werden Tausende von Fragen stellen und wahrscheinlich dauert es keine zwei Sekunden, bis sie darauf kommen, dass auf eine ganze Menge davon die Antwort mein Name ist. Das ist alles deine Schuld. Sieben Jahre, ich dachte wirklich, ich wäre … Und jetzt bin ich geliefert. Du hast mich ans Messer geliefert.«
Während Gansey wieder aus dem Camaro auftauchte, in der Hand das Notizbuch, begriff er, wovon Whelk da redete: Noah. Der Mann dort vor ihm war Noahs Mörder.
Ein schwaches Gefühl regte sich in Ganseys Innerem. Noch kam es ihm nicht vor wie Angst. Eher fühlte er sich zum Zerreißen gespannt, wie eine Seilbrücke, die das Gewicht auf sich kaum halten konnte. Es war der Verdacht, dass vor diesem Augenblick nichts in Ganseys Leben real gewesen war.
»Mr Whelk …«
»Sag mir, wo du gewesen bist.«
»Oben in den Bergen, in der Nähe von Nethers«, sagte Gansey abwesend. Das war die Wahrheit und es war ohnehin egal, ob er log oder nicht, weil er die GPS-Koordinaten sorgsam und pflichtbewusst in das Notizbuch eingetragen hatte, das er gleich an Whelk aushändigen würde.
»Was hast du gefunden? Glendower?«
Gansey zuckte zusammen, was ihn überraschte. Irgendwie hatte er sich bis jetzt erfolgreich eingeredet, es ginge um etwas ganz anderes, etwas Logischeres, und nun Glendowers Namen zu hören, versetzte ihm einen Schock.
»Nein«, antwortete Gansey. »Wir haben ein Bild an einem Berghang gefunden.«
Whelk streckte die Hand nach dem Notizbuch aus. Gansey schluckte.
»Whelk … Sir«, fragte er, »gibt es denn keinen anderen Weg?«
Ein leises, unverkennbares Klicken ertönte. Ein Geräusch, das er aus unzähligen Actionfilmen und Computerspielen kannte. Obwohl Gansey es noch nie in Wirklichkeit gehört hatte, wusste er ganz genau, was für ein Geräusch eine Pistole machte, wenn sie entsichert wurde.
»Nein«, sagte Whelk. »Das hier ist der andere Weg.«
Wieder breitete sich in Gansey dieses seltsame Gefühl aus, das er auch im Monmouth beim Anblick der Wespe verspürt hatte, als wäre er losgelöst von seinem Körper. Mit einem Mal sah er die Realität: eine Waffe, die sich in die Haut über seinen Augenbrauen presste, so kalt, dass sie sich scharfkantig anfühlte – und zugleich die dahinterstehende Möglichkeit: Whelks Finger, der den Abzug betätigte, eine Kugel, die sich in seinen Schädel bohrte, den Tod statt einer Rückkehr nach Henrietta.
Das Notizbuch lag schwer in seinen Händen. Er brauchte es nicht. Er wusste alles auswendig, was darin stand.
Aber das war er . Mit dem Buch würde er alles weggeben, wofür er so hart gearbeitet hatte.
Dann besorge ich mir eben ein neues.
»Sie hätten einfach fragen können«, sagte Gansey, »dann hätte ich Ihnen alles erzählt, was hier drinsteht. Mit Vergnügen. Es ist kein Geheimnis.«
Die Pistole an Ganseys Stirn zitterte. Whelk sagte: »Ich kann nicht glauben, dass du hier tatsächlich noch weiterplapperst, obwohl ich dir eine Waffe an den Kopf halte. Ich kann nicht glauben, dass du das so dringend loswerden musstest.«
»Wenigstens«, erwiderte Gansey, »wissen Sie so, dass es die Wahrheit ist.« Er ließ zu, dass Whelk ihm das Notizbuch aus den Händen nahm.
»Du widerst mich an«, sagte Whelk und drückte sich das Buch fest an die Brust. »Du hältst dich für absolut unbesiegbar. Tja, stell dir vor, das hab ich auch mal getan.«
Als er diese Worte hörte, wusste Gansey, dass Whelk ihn töten würde. Dass niemand, der eine Pistole in der Hand hielt, so viel Hass und Bitterkeit verströmen und dann nicht den Abzug drücken konnte.
Whelks Gesichtszüge spannten sich an.
Einen Moment lang schien der Begriff »Zeit« jede Bedeutung verloren zu haben. Es gab nur noch die Pause zwischen einem ausgestoßenen Atemzug und dem nächsten, der in die Lungen rauschte.
Sieben Monate zuvor hatte Ronan versucht, Gansey die Grundlagen des Boxens beizubringen.
»Setz dein ganzes Körpergewicht ein, nicht nur deine Faust.
Blick auf den Punkt, den du treffen willst.
Den Ellbogen im Neunzig-Grad-Winkel.
Nicht drüber nachdenken, ob es wehtun wird.
Gansey! Ich hab gesagt, nicht drüber nachdenken, ob es wehtun wird.«
Gansey
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