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Wen der Rabe ruft (German Edition)

Wen der Rabe ruft (German Edition)

Titel: Wen der Rabe ruft (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maggie Stiefvater
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Pause nach draußen, und wenn sie dann den Kopf gegen die Backsteinmauer im Hinterhof des Lokals lehnte, träumte sie von einem Beruf, in dem sie Baumringe untersuchen durfte. Mit Mantarochen schwimmen. Venezuela durchstreifen, um den Urichkleintyrann zu erforschen.
    Tatsächlich wusste sie gar nicht, ob sie besonders viel über diese kleinen Vögel wissen wollte. Ihr gefiel einfach der Name und für ein Mädchen von einem Meter fünfzig Körpergröße klang ein Leben als Kleintyrann schon ziemlich vielversprechend.
    Doch all diese Lebensentwürfe hatten wenig mit ihrem Job im Nino zu tun.
    Nur wenige Minuten, nachdem ihre Schicht begonnen hatte, winkte der Geschäftsführer Blue zu sich in die Küche. Heute war es Donny. Im Nino gab es ungefähr fünfzehn Geschäftsführer, von denen keiner einen Highschoolabschluss besaß.
    Donny gelang es irgendwie, gleichzeitig cool an der Wand zu lehnen und ihr hastig das Telefon hinzustrecken. »Deine Eltern … äh, Mutter.«
    Natürlich war es ihre Mutter. Ihren Vater kannte Blue nicht einmal. Sie hatte schon öfter versucht, ihre Mutter nach ihm auszufragen, aber Maura hatte sich jedes Mal geschickt aus der Affäre gezogen.
    Sie schnappte Donny den Hörer aus der Hand und zog sich in die hinterste Küchenecke zurück, zwischen den chronisch fettüberzogenen Kühlschrank und die große Spüle. Trotzdem drängelte sich alle paar Augenblicke jemand an ihr vorbei.
    »Mom, ich muss arbeiten.«
    »Keine Panik. Sitzt du? Na ja, vielleicht musst du dafür auch nicht unbedingt sitzen. Oder doch? Lehn dich wenigstens irgendwo an. Er hat angerufen. Um sich einen Termin für eine Sitzung geben zu lassen.«
    »Wer denn, Mom? Du musst lauter reden, hier ist ’ne Menge Lärm.«
    »Gansey.«
    Einen Moment lang begriff Blue gar nichts. Dann aber brach die Erkenntnis über sie herein und ließ ihre Füße bleischwer werden. Ihre Stimme klang matt. »Wann … ist der Termin?«
    »Morgen Nachmittag. Noch früher konnte ich ihn nicht unterbringen. Ich hab’s versucht, aber da hatte er Schule. Musst du morgen auch arbeiten?«
    »Ich tausche die Schicht«, antwortete Blue sofort. Aber es war, als spräche jemand anders die Worte aus. Die echte Blue war wieder auf dem Kirchhof und hörte seine Stimme »Gansey« sagen.
    »Ja, tu das. Und jetzt geh wieder an die Arbeit.«
    Als sie auflegte und die Küche verließ, fühlte sie ihren Puls flattern. Es war echt. Er war echt.
    Es war alles wahr und verdammt noch mal kein bisschen unkonkret.
    Wie albern es ihr plötzlich vorkam, jetzt hier sein zu müssen, Tische abzuräumen, Getränke nachzuschenken, Fremde anzulächeln. Sie wollte nach Hause, sich an den kühlen Stamm der ausladenden Buche hinter dem Haus lehnen und darüber nachdenken, inwieweit diese Neuigkeit ihr Leben veränderte. Neeve hatte gesagt, dies sei das Jahr, in dem sie sich verlieben würde. Maura hatte gesagt, sie würde ihre wahre Liebe durch einen Kuss töten. Gansey würde dieses Jahr sterben. War das Zufall? Gansey war ihre wahre Liebe. Es konnte nicht anders sein. Denn sie hatte ganz bestimmt nicht vor, jemanden zu töten.
    Muss das Leben wirklich so sein? Vielleicht war es besser, es nicht zu wissen.
    Etwas berührte sie an der Schulter.
    Berührungen gingen strikt gegen Blues Regeln. Niemand durfte sie anfassen, wenn sie im Nino war, und schon gar nicht jetzt, da sie mitten in einer persönlichen Krise steckte. Sie wirbelte herum.
    »Kann. Ich. Was. Für. Sie. Tun?«
    Vor ihr stand der Multitasker, der Aglionby-Junge mit dem Handy, geschniegelt wie ein Präsidentensohn. Allein seine Armbanduhr sah aus, als sei sie mehr wert als das Auto ihrer Mutter, und jeder Quadratzentimeter entblößter Haut wies eine sehr ansehnliche Bräune auf. Blue war nie dahintergekommen, wie Aglionby-Jungs es schafften, früher braun zu werden als die Einheimischen. Vermutlich hatte das etwas mit der Kombination aus Osterferien und Orten wie Venezuela oder der spanischen Küste zu tun. Präsident Multitasking war einem Urichkleintyrannen wahrscheinlich schon wesentlich näher gekommen, als sie es je würde.
    »Das hoffe ich doch«, erwiderte er auf eine Art, die weniger Hoffnung als vielmehr Bestimmtheit signalisierte. Er musste laut sprechen, damit sie ihn hörte, und den Kopf neigen, um ihr in die Augen sehen zu können. Er hatte etwas ärgerlich Beeindruckendes an sich, etwas, das ihn riesig wirken ließ, obwohl er in Wirklichkeit nicht größer war als die meisten Jungs. »Mein krankhaft

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