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Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie

Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie

Titel: Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Crombie
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gesehen hatte.Wann war ihm diese Gabe abhandengekommen?
    Als er Notting Hill Gate erreichte, blieb er unschlüssig stehen, und im letzten Moment schob er die Entscheidung wieder auf, indem er die Abzweigung zur Pembridge Road nahm und kurz darauf in die Portobello einbog. Die Läden waren geschlossen, die Straße ruhig, und im
schwindenden Licht wirkten die Farben der Häuser immer am intensivsten. Sie erinnerten ihn an die französischen Dörfer, die er im Krieg gesehen hatte – es war, als sei ein kleines Stück eines fremden Landes mitten in das nüchterne London hineingepflanzt worden, wie ein falsches Teil in einem Puzzle.
    Doch als er auf die Westbourne Grove stieß, wandte er sich kurz entschlossen nach links.Aus den offenen Fenstern der Wohnungen über den Läden drangen Wortfetzen in Sprachen, die er nicht erkannte, und exotische Essensdüfte stiegen ihm in die Nase.
    Der Ansturm dieser ungewohnten Sinneseindrücke schien ihn zu elektrisieren, und von einer Woge der Leichtigkeit und der Unbekümmertheit ließ er sich in die Kensington Park Road treiben und weiter um die Ecke in die Arundel Gardens. Er fand die Adresse, und als er bei Erika Rosenthal klingelte, pochte sein Herz nur ganz leicht.
    Doch Erika begrüßte ihn so ungezwungen, als hätte sie ihn erwartet. »Inspector! Bitte, treten Sie ein.«
    Er fröstelte ein wenig, als er ihr in die Wohnung folgte – mit Einbruch der Dunkelheit war es plötzlich merklich kühler geworden. Sie bemerkte es und sagte: »Bitte, setzen Sie sich doch. Ich glaube, ich habe noch ein wenig Sherry da, wenn Sie mögen.«
    Er nahm in dem Sessel Platz, den sie ihm angeboten hatte, und blickte sich in dem hellen Zimmer um. Erleichtert atmete er auf, als die Befürchtung, die er sich jetzt erst eingestand, sich zu legen begann. Dieses Zimmer, diese Wohnung, wirkte auf ihn, als hätte Erika immer nur allein hier gelebt, und er hatte nicht das Gefühl, dass der Schatten von David Rosenthal im Hintergrund lauerte.
    Ein offenes Buch lag auf einem Tisch neben dem anderen Sessel, daneben stand eine Teetasse, und davor auf dem Boden ein Korb mit Nähzeug. Ein verschlissenerTeppich, dem man seine gute Qualität aber immer noch ansah, bedeckte den größten Teil des Parkettbodens, die Vitrinen zu beiden Seiten des Kamins waren mit Büchern angefüllt, und auf dem Sims stand eine Sammlung farbenfroher und eigentümlich geschnitzter Tierfiguren. Er wusste instinktiv, dass sie Erika gehörten.

    »Aus Bayern«, erklärte sie, als sie ins Zimmer zurückkam und seinem Blick folgte. »Meine Mutter hat sie mir einmal mitgebracht, als ich ein kleines Mädchen war. Sie gehörten zu den wenigen Dingen, die ich retten konnte, als ich nach dem Krieg nach Berlin zurückging, weil offenbar weder die Nazis noch die Plünderer ihnen irgendeinen Wert beigemessen hatten.«
    »Und das da?«, fragte er und deutete mit dem Kopf auf den Salonflügel, der den größten Teil des restlichen Platzes einnahm.
    Erika reichte ihm ein kleines Kristallglas, und er kam sich plump und ungeschickt vor, als er es entgegennahm. Doch der Sherry war trocken und von goldener Farbe, und als er daran nippte, war es, als koste er destilliertes Sonnenlicht.
    »Der Flügel?« Sie setzte sich in den Sessel neben dem aufgeschlagenen Buch und legte die Füße übereinander, die unter dem glockenartig aufgebauschten Rock ihres hellblauen Hemdblusenkleids hervorlugten. »Im Krieg habe ich beim Nachbarschaftswachdienst gearbeitet. Wenn ein Haus ausgebombt wurde, versuchten wir Angehörige ausfindig zu machen, die an sich nahmen, was vom Hausrat unversehrt geblieben war. Manchmal waren die Eigentümer ums Leben gekommen, und manchmal hatten die Familien London verlassen, und wir hatten keine Möglichkeit, mit ihnen in Kontakt zu treten. Der Flügel war das Einzige, was von einem Haus in der Ladbroke Road noch stand. Niemand wollte ihn, und da haben einige der Männer eine Art Palette mit Rädern gebastelt und ihn mir hierhergerollt.
    Wir entwickelten einen großen Erfindungsreichtum, wenn es darum ging, mit dem auszukommen, was gerade zur Hand war.«
    »Spielen Sie auch?«, fragte Gavin, der immer noch den Flügel bewunderte.
    Sie lächelte. »Meine Mutter ließ mich Klavierunterricht nehmen, als ich klein war. Aber ich war immer besser im Zuhören als im Spielen.« Sie nahm einen kleinen Schluck von ihrem Sherry – nicht aus Enthaltsamkeit, wie Gavin vermutete, sondern weil sie jeden Tropfen genießen wollte. Erika war eine Frau,

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