Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
die sich an den schönen Dingen des Lebens
erfreute … einem Buch, einem guten Wein, einem herrenlosen Flügel, den verblassten Farben eines Teppichs. Wie hatte sie sich mit David Rosenthal arrangieren können, der, wie Gavin inzwischen glaubte, in seiner blinden Besessenheit nichts anderes mehr wahrgenommen hatte?
»Ich kann mir Ihren Mann hier gar nicht recht vorstellen«, sagte er, erstaunt über seine eigene Direktheit, noch während er seine Gedanken laut aussprach.
»Oh, er war ja auch nicht oft hier«, erwiderte Erika, die nicht im Geringsten beleidigt schien. »Entweder hat er gearbeitet, oder er war im Lesesaal, und oft hat er sich auch mit anderen Dingen beschäftigt, von denen ich nichts wissen durfte.«
»Und das hat Sie nicht gestört?«
»Es hätte keinen Unterschied gemacht, ob es mich störte oder nicht.« Sie stellte ihr Glas auf den Tisch, wobei das Kristall mit leisem Klirren gegen das Holz stieß, und sah ihm direkt in die Augen. »Inspector Hoxley, Sie sind doch gekommen, um mir etwas zu sagen.Was ist es?«
»Ich heiße Gavin«, sagte er, wohl wissend, dass er sich ihr bei ihrer ersten Begegnung mit vollem Namen vorgestellt hatte. Er kam sich idiotisch vor.
»Ja, ich weiß.« Sie betrachtete ihn mit der gleichen Ernsthaftigkeit, die ihn bei diesem ersten Gespräch so fasziniert hatte.
Die Worte sprudelten nur so aus ihm hervor. »Man hat mich von dem Fall abgezogen. Ich wurde gewarnt, dass ich meine Stelle verlieren könnte, wenn ich nicht die Finger davon lasse.« Er hob sein Glas, stellte überrascht fest, dass er den Sherry ausgetrunken hatte, und verblüffte sich noch mehr, indem er hinzufügte: »Und meine Frau hat mich verlassen.«
»Wegen dieser Sache? Wegen David?« Zum ersten Mal an diesem Abend hörte er Besorgnis in ihrer Stimme.
»Nein. Oder wenn, dann war es nur das letzte kleine Detail.«
Sie nickte bedächtig. »Ja, mit so etwas kenne ich mich aus, das können Sie mir glauben, Gavin. Der berühmte letzte Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.«
Er hatte ihren Akzent gar nicht mehr wahrgenommen, bis sie jetzt seinen Namen aussprach, und er musste unwillkürlich lächeln. »Ja.«
Erika stand auf und griff nach seinem Glas. »Ich hole uns noch etwas zu trinken.Tee, wenn sich nichts anderes findet. Ich bin sehr englisch geworden während des Kriegs.«
Gavin merkte, dass er es nicht aushielt, sitzen zu bleiben, und folgte ihr in die Küche. Hatte sie ihren Mann gemeint, als sie das mit dem letzten Tropfen gesagt hatte? War ihre Ehe schon vor dem Tod ihres Mannes am Ende gewesen?
Sie stand mit dem Rücken zu ihm und streckte sich nach den Tassen und Untertassen im Schrank. Gavin verspürte aufs Neue diese rauschhafte Leichtigkeit, die ihn zu ihrer Tür getragen hatte – es konnte doch gewiss nicht der Sherry sein?
Erika hielt mit den Tassen in der Hand inne, als hätte sie seine Nähe gespürt. Dann stellte sie ganz behutsam das Porzellan auf der Arbeitsplatte ab und stützte sich mit den Händen auf die Kante. Sie stand so still, dass man hätte glauben können, sie lausche auf das Ticken einer Uhr oder das Geräusch der Erde, die sich um ihre Achse drehte.
Er legte ihr die Hände auf die Schultern und spürte die Wärme ihrer Haut durch den dünnen Baumwollstoff ihres Kleids. Ein Schauer durchlief ihren Körper, doch sie wandte sich weder um, noch wich sie ihm aus. »Erika«, flüsterte er, »ich sollte das nicht … Ihr Mann … das ist nicht richtig …«
Sie antwortete, indem sie ihre Hände auf seine legte und sie an sich herunterzog, bis sie ihre Brüste bedeckten. Das Verlangen, das ihn überkam, war so intensiv, dass es ihm den Atem verschlug und er am ganzen Leib zitterte.
»Mein Mann hat mich nicht mehr angerührt seit der Nacht, als wir Berlin verließen«, sagte sie. Dann drehte sie sich in seinen Armen um und legte den Kopf in den Nacken, um ihm in die Augen sehen zu können. »Und ob das hier richtig oder falsch ist, hängt ganz allein von uns ab, mein Geliebter.«
16
Obwohl die Alliierten Krieg gegen ein Nazi-Deutschland führten, für das der Antisemitismus der zentrale Pfeiler seiner Gesellschaftsordnung war, verschwand der Antisemitismus
während der Kriegsjahre nicht einfach aus Großbritannien, sondern dauerte an und nahm sogar noch zu.
Pamela Shatzkes, Holocaust and Rescue: Impotent or Indifferent?
Anglo-Jewry 1938 -1945
Der Innenhof des St. Barts lag schon im Schatten, als Gemma am Haupteingang ankam. Sie schlüpfte hinein und
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