Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
zog gleich ihr Handy aus der Tasche, um zu sehen, ob sie neue Nachrichten hatte – in der grellen Nachmittagssonne hätte sie das Display ohnehin nicht lesen können. Noch nichts von Kincaid und auch nichts von ihrer Schwester.Als sie das Telefon zuklappte und wieder aufblickte, sah sie ihrenVater aus dem behelfsmäßigen Durchgang treten, der zum hinteren Teil des Komplexes führte.
Sie hatte ihn gesehen, bevor er sie entdeckte, und in diesem kurzen Moment registrierte sie seine hängenden Schultern und seine düstere Miene. »Dad«, rief sie und eilte auf ihn zu. »Ist alles in Ordnung mit Mum?« Mit einem Blick auf ihre Uhr fügte sie hinzu: »Ich hab doch nicht schon wieder die Besuchs…« Die Worte erstarben auf ihren Lippen. Beim Klang ihrer Stimme hatte er aufgeblickt, und sofort verhärteten sich seine Züge, während er das Kinn in der trotzig-verbissenen Art vorschob, die ihr so vertraut war.
»Du hast die Gelegenheit verpasst, mit ihr zu reden, falls dir daran irgendetwas liegt«, sagte er, während er auf sie zukam. »Sie schläft nämlich. Es war ein schlimmer Tag, aber das weißt du sicher schon, oder? Wo du dir doch ständig freinimmst, um mehr Zeit mit deiner Mutter verbringen zu können.«
»Dad … Ich war … Ich bin … Aber …«
»Du hast wohl was Besseres vor in deiner Freizeit, wie? Ist es das, was du mir sagen willst?«
»Nein, Dad, natürlich nicht. Aber gestern Abend ist jemand ermordet worden …«
»Und das ist wichtiger, als dass deine Mutter im Sterben liegt?«
Gemma starrte ihn an. Ihr war, als hätte sie einen Schlag in die Magengrube bekommen. »Was redest du denn da? Mum wird nicht sterben. Sie haben gesagt, die Krankheit ist behandelbar …«
»Das ist doch bloß das Geschwätz von diesen Ärzten, wenn sie einem nicht die Wahrheit sagen wollen. Sie ist schlimm dran. So hab ich sie noch nie erlebt.«
Gemma sah zu ihrem Entsetzen, dass er den Tränen nahe war. »Dad, sie wird schon wieder gesund.« Sie streckte die Hand aus, um ihn am Arm zu fassen, doch er schüttelte sie ab.
»Komm mir bloß nicht so von oben herab«, spie er sie an. »Dazu hast du kein Recht, Fräulein, und in diesem Fall weißt du ausnahmsweise mal nicht alles besser.«
Seine ewige Kritik, seine ständige Missbilligung, das alles schien plötzlich mehr, als sie ertragen konnte. Sie konnte es einfach nicht verhindern, dass die Wut in ihr hochkochte. »Und du redest gefälligst nicht so mit mir!«, schrie sie ihn an. »Was habe ich dir denn je getan, dass ich so eine Behandlung verdiene?«
Ganz am Rande nahm sie wahr, wie andere Leute sich im Vorbeigehen nach ihnen umdrehten, doch das war ihr jetzt egal. »Ich habe etwas aus mir gemacht – etwas, worauf du eigentlich
stolz sein solltest. Ich trageVerantwortung. Ich habe einen guten Beruf. Ein prächtiges Kind. Eine gute Beziehung.Warum kannst du mir nicht ein Mal ein bisschen …«
»So ist das also, hm?« Nachdem er sie erfolgreich zur Weißglut getrieben hatte, war er plötzlich ganz kalt. »Wenn dein Leben so perfekt ist, warum heiratest du ihn dann nicht und gibst deiner Mutter ihren Seelenfrieden, solange es noch nicht zu spät ist?«
»Er gefällt mir immer noch nicht«, meinte Cullen, als er und Kincaid schließlich wieder im Wagen saßen. »Er wirkt sehr überzeugend, aber genauso überzeugend war er als arrogantes Arschloch bei Harrowby’s.Wie können wir da wissen, was echt und was Theater ist?«
Sie hatten ein Team zur Durchsuchung von Khans Haus angefordert und einen Abschleppwagen für den dunkelblauen Volvo-Geländewagen, der, wie sich herausstellte, auf Sophie Khan zugelassen war. »Ka fährt nie damit, außer wenn wir abends oder am Wochenende zusammen etwas unternehmen«, hatte sie ihnen erklärt.
Auf die Frage, wo ihr Mann in den beiden fraglichen Nächten gewesen sei, hatte sie geantwortet, er habe natürlich zu Hause im Bett gelegen, und für wie dumm sie sie eigentlich hielten, wenn sie glaubten, sie würde es nicht merken, wenn er sich davonschliche, um jemanden über den Haufen zu fahren?
Sie hatte ein Kind auf der Hüfte getragen, während das andere an ihrem Bein hing, und angesichts ihrer entschlossenen Miene stand zu befürchten, dass sie jeden, der ihre Familie bedrohte, mit Haut und Haaren verschlingen würde.
Khan war am Schluss sehr schweigsam und unnahbar gewesen, und es gelang Kincaid nicht, hinter seine Maske zu blicken. Nachdem er sich wieder beruhigt hatte, versicherte er ihnen ganz höflich, dass sie
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