Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
nur seine und ihre Zeit vergeudeten. Im Übrigen habe er sämtliche Dokumente, die er bei Harrowby’s kopiert
hatte, an seinen Bekannten, den Journalisten, weitergegeben und würde ihm nicht die Erlaubnis erteilen, sie herauszugeben.
»Und wenn Sie denken, dass ich ein schwieriger Fall bin«, hatte er mit einem matten Lächeln hinzugefügt, »dann kennen Sie Jon nicht. Ohne Durchsuchungsbeschluss rückt er auch nicht das kleinste Fitzelchen Papier heraus.«
»Sollen wir uns den Journalisten vorknöpfen?«, fragte Cullen jetzt mit hörbarer Vorfreude.
Kincaid überlegte kurz und antwortete dann: »Nicht, bevor wir uns noch einmal mit unserem besonderen Freund Giles Oliver unterhalten haben.«
Gemma sah ihrem Vater nach, und ihr Zorn verflog so schnell, wie er aufgeflammt war. Sie fragte sich, ob sie jemals lernen würde, nicht auf seine Provokationen einzugehen, nicht zu versuchen, das letzte Wort zu haben, weil sie in diesem Wettstreit unweigerlich unterliegen musste. So hatte sie lediglich bewiesen, dass er immer noch in der Lage war, sie zu verletzen und Selbstzweifel in ihr auszulösen.
Aber stimmte es denn, was er über ihre Mutter gesagt hatte? Sie machte kehrt und tauchte in den langen Tunnel des behelfsmäßigen Durchgangs ein. Ihr Herz klopfte, als hätte sie gerade einen Hundertmeterlauf hinter sich. Als sie die Station ihrer Mutter erreichte und am Empfang darauf wartete, dass jemand Zeit für sie hatte, war ihr Mund wie ausgetrocknet, und sie musste krampfhaft schlucken.
Der Stationspfleger war derselbe Pakistani, mit dem sie am Abend der Einlieferung ihrer Mutter gesprochen hatte. Er drückte einer Schwester ein Krankenblatt in die Hand, wandte sich Gemma zu und lächelte, als er sie wiedererkannte.
»Sie können zu ihr gehen«, sagte er. »Im Moment schläft sie, aber …«
»Geht es ihr schlechter?«, fragte Gemma. »Mein Vater sagte,
dass sie …« Sie brachte das Wort nicht über die Lippen. »Dass sie einen schlimmen Tag gehabt hätte.«
»Na, so weit würde ich nicht gehen.« Der Pfleger schüttelte den Kopf. »Sie ist nur erschöpft von der Chemo, und die Medikamente gegen die Übelkeit machen sie ein bisschen schläfrig. Aber ansonsten geht es ihr wirklich gut. Sie können ja reingehen und sich selbst überzeugen.« Er winkte kurz zum Abschied und wandte sich einem anderen Besucher zu, sodass ihr nichts anderes übrig blieb, als seiner Aufforderung zu folgen, obwohl ihr Herz immer noch heftig pochte.
Der Vorhang um das Bett ihrer Mutter war zugezogen. Gemma holte tief Luft, ehe sie hindurchschlüpfte und sich geräuschlos auf den Stuhl neben dem Bett sinken ließ. Ihre Mutter schlief, wie der Pfleger gesagt hatte, und sie atmete ruhig und regelmäßig.
Erleichterung durchflutete Gemma, und sie schloss die Augen, die sich plötzlich mit Tränen füllten.
Ihr Vater hatte ihr absichtlich wehgetan. Er war ihr gegenüber schon immer besonders streng und kritisch gewesen, was sie darauf zurückgeführt hatte, dass sie die Ältere war und er einfach höhere Erwartungen an sie hatte. Aber die Szene vorhin – so etwas hatte sie noch nicht erlebt.Wann hatten die Gefühle ihres Vaters sich so gewandelt, wann waren sie über bloße Ungeduld hinausgegangen?
Sie blickte auf, als sie eine Veränderung in der Atmung ihrer Mutter registrierte, und stellte fest, dass Vi wach war und sie beobachtete.
»Tut mir leid, Mum«, flüsterte sie. »Ich wollte dich nicht wecken.«
»Ich freue mich einfach nur, dich zu sehen, Schatz.«Vi streckte die Hand nach Gemmas feuchter Wange aus, doch der Infusionsschlauch hinderte sie, und sie ließ die Hand wieder auf die Bettdecke fallen. »Du hast doch nicht etwa geweint, oder?«
»Nein, ich …« Gemma wischte sich mit dem Handrücken über die Wangen und platzte heraus: »Mum, warum hasst Dad mich so?«
»Dich hassen? Red keinen Unsinn, Schatz«, wies Vi sie mit einer Andeutung ihrer gewohnten Forschheit zurecht.Aber selbst diese kleine Anstrengung schien sie zu erschöpfen, und sie sank auf ihr Kissen zurück, während sie leise hinzufügte: »Natürlich hasst dein Dad dich nicht.Wie kommst du nur auf so eine Idee?« Sie musterte Gemma prüfend und seufzte. »Hör einfach nicht auf ihn. Er macht sich Sorgen, und er lässt es an dir aus.«
»Aber warum an mir? Ich wollte doch immer, dass er stolz auf mich ist.« Sie dachte an Hugh Kincaid, Duncans Vater, und erinnerte sich, wie überrascht sie gewesen war, als er sie vom ersten Moment an mit Sympathie und
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