Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
erwischte Kit, der gerade eben das Haus betreten hatte, redete kurz mit ihm und hatte kaum aufgelegt, als Melody anrief. Sie klang, als hätte sie im Lotto gewonnen.
»Sie erraten nie, was ich gerade rausgefunden habe, Chefin.«
Kit fand die Idee ziemlich gut. Es gefiel ihm, dass Gemma glaubte, er könne ihr behilflich sein, und er wollte auch gerne noch einmal mit Erika sprechen. Er war neugierig, was aus ihrer Familie geworden war, aber er hatte das Gefühl, dass er gestern ganz schön ins Fettnäpfchen getreten war. Er würde das Thema ein wenig taktvoller anschneiden müssen. Und er war sich auch nicht sicher, wie er es anstellen sollte, mit Erika über diese junge Frau zu sprechen, die offenbar getötet worden war, wie Gemma sagte, aber da würde ihm schon etwas einfallen.
Und im Gegensatz zu gestern hatte er heute noch die Gelegenheit, sich seiner Schulklamotten zu entledigen. Der Tag war noch ein wenig wärmer, also tauschte er Blazer und Krawatte gegen Jeans und T-Shirt, ließ die Hunde noch einmal kurz in den Garten und gab ihnen ihre Hundekuchen, und dann machte er sich auf den Weg und ging die Lansdowne Road hinunter. Als ein Grüppchen von kichernden Schulmädchen in Uniform ihm im Vorbeigehen verstohlene Blicke zuwarf, grinste er mit ungewohntem Selbstbewusstsein zurück und beschleunigte seinen Schritt.
Erika kam auf sein Klingeln hin sofort an die Tür und schien auch keineswegs überrascht, ihn zu sehen.
»Ich habe Limonade gemacht«, sagte sie. »Richtige Limonade, wie wir sie damals in Deutschland jeden Sommer gemacht
haben, als ich ein Kind war, nicht dieses sprudelige Zeug aus der Flasche.«
»Hat Gemma Sie angerufen?«, fragte er, als er ihr in die Wohnung folgte.
»Sie betüttelt mich. Und jetzt schickt sie dich, damit du mich an ihrer Stelle betüttelst«, entgegnete Erika, aber sie schien nicht allzu viel dagegen zu haben. »Man könnte meinen, ich wäre ein hilfloses altes Muttchen – nun ja, alt bin ich wohl tatsächlich, aber hilflos … Heute ist es drinnen kühler als draußen«, fügte sie hinzu, als sie in die Küche kamen.
Sie hatte zwei hohe Gläser auf ein Tablett gestellt, dazu einen Glaskrug, in dem ein paar Eiswürfel und Zitronenscheiben schwammen. Sie schenkte Kit ein Glas ein, und er trank es gierig aus, nachdem er festgestellt hatte, dass er den leicht säuerlichen Geschmack irgendwie mochte. Dann setzte er sich an den kleinen Tisch und goss sich auf Erikas aufmunterndes Nicken hin noch ein Glas ein.
Erika nahm gegenüber von ihm Platz, rührte ihre eigene Limonade aber kaum an. Sie sah müde aus, und auf ihren Wangen brannten hektische rote Flecken.
»Es tut mir leid wegen dieses Mädchens, das ums Leben gekommen ist«, sagte er und merkte plötzlich, dass ihm der Anfang gar nicht schwerfiel. »Und es tut mir auch leid, was ich gestern über Ihren Vater gesagt habe. Das war nicht fair von mir.«
»Ach was.« Sie tat seine Entschuldigung mit einem Achselzucken ab. »Das, was damals passiert ist, das war nicht fair. Damals war das Leben überhaupt ziemlich unfair. Aber du hattest ja völlig recht. Wir hätten uns niemals von meinem Vater dazu überreden lassen dürfen, ihn zurückzulassen. Aber er war ein eigensinniger Mann, und er hatte sich eingeredet, wenn er nur so weitermachte wie bisher und so täte, als wären wir nur zu einem Verwandtenbesuch nach Tilsit gefahren, würden sie uns schon in Ruhe lassen.
Dabei waren die Nazis damals durchaus noch bereit, Juden ausreisen zu lassen, aber David ließ sich nicht so einfach zum Schweigen bringen, und sie haben vielleicht befürchtet, er würde Stimmung gegen das Regime machen, wenn er sich in ein Land absetzte, in dem er frei reden konnte.«
»Aber nachdem Sie einmal außer Landes waren – hätte Ihr Vater da nicht …«
Doch Erika schüttelte nur den Kopf und erwiderte: »Es war 1939. Als wir uns gerade in London niedergelassen hatten, fielen die Deutschen in Polen ein. Danach verloren wir jede Verbindung in die Heimat, obwohl wir alles versuchten, um in Kontakt zu bleiben, wie alle anderen auch. Aber sogar die Rundfunknachrichten wurden von den Nazis zensiert, und wir konnten nur Vermutungen anstellen und uns anhören, was diejenigen, die nach uns ins Land kamen, zu berichten wussten. Erst nach dem Krieg, als nach und nach die Unterlagen zugänglich wurden, erfuhr ich, dass mein Vater nicht lange nach unserer Ausreise sein Geschäft verloren hatte und dann auch unser Haus. Er wurde in ein Arbeitslager
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