Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
gebracht – so wurden sie damals genannt.«
»Nach Sachsenhausen?«
»Ja. Soweit ich das feststellen konnte, starb er in Lager Z.«
Kit konnte sich das einfach nicht vorstellen – die Ungewissheit, die ausgemalten Schrecken, die doch weit hinter dem zurückgeblieben sein mussten, was ihr Vater tatsächlich durchgemacht hatte. Er selbst wusste wenigstens, was mit seiner Mutter passiert war, was sie gelitten hatte und dass sie einen schnellen Tod gehabt hatte.
Und wie war es für Erika gewesen, als Fremde in London, durch ihren Akzent als Ausländerin gebrandmarkt, und, schlimmer noch, als Deutsche? Aber wenigstens war sie nicht allein gewesen.
»Ihr Mann – als er nach London kam, hat er da tatsächlich
gegen die Deutschen Stimmung gemacht, wie die Nazis vermutet hatten? Hat er den Leuten gesagt, was passiert war?«
Erika blickte hinaus in den Garten. Der Feigenbaum vor der Küche verwandelte das Sonnenlicht in unstete grüne Formen, wie unregelmäßige Puzzleteile, und durch das offene Fenster roch Kit den Duft von Hyazinthen. Er schwitzte, und an der Außenseite des Limonadenkrugs rannen Tropfen von Kondenswasser herab. Erika war so lange still, dass er sich fast schon wieder wünschte, er hätte sie gar nicht gefragt, doch plötzlich richtete sie den Blick fest auf ihn. Sie studierte ihn aufmerksam mit ihren dunklen Augen, so lange, bis er das Gefühl hatte, auf den Prüfstand gestellt zu werden.
Dann sagte sie: »Lass uns ein wenig spazieren gehen, ja? In der Sonne. Und dann erzähle ich dir von meinem Mann.«
Im Kripo-Büro stank es. Zu viele Körper auf zu engem Raum, in Kleidern, die in der Hitze ranzig von Schweiß waren. Zu viele Zigarettenkippen in den Aschenbechern auf den Schreibtischen, zu viele fettverschmierte Pommes-frites-Tüten, alles vermischt mit dem durchdringenden Geruch nach verbranntem Kaffee.
Gavin legte den Hörer auf die Gabel – zum hundertsten Mal, wie ihm schien – und rieb sich das Ohr, das vom Kontakt mit dem schweren Apparat ganz feucht war. Sein Kopf schmerzte, und sein Magen brannte von einer Überdosis ebenjenes Kaffees, dessen penetranter Geruch die Luft erfüllte. Er fragte sich, warum er sich je gewünscht hatte, es wäre endlich Frühling, und warum er sich so hartnäckig in einen Fall verbiss, bei dem er offensichtlich keinen Schritt weiterkam.
Gestern Abend hatte er noch lange im Büro gesessen und sämtliche Unterlagen zu David Rosenthal zusammengestellt – den detaillierten Obduktionsbericht, die Protokolle der Anwohnerbefragungen in der Umgebung des Tatorts, seine eigenen, sorgfältig abgetipptenVernehmungen von Erika Rosenthal und David Rosenthals Kollegen – und hatte doch am Ende mit leeren Händen dagestanden.
Als er endlich nach Hause gekommen war, hatte er Linda noch wach vorgefunden; mit Papierwicklern im Haar saß sie im Bett und las eine Illustrierte. Sie hatte ihn angestarrt und die Nase gerümpft, und er hatte sich gefragt, ob der Geruch des Todes aus dem Leichenschauhaus noch in seinen Kleidern hing oder ob sie ihm irgendwie anmerkte, dass er eine andere Frau begehrte. Er hatte sein schlechtes Gewissen mit Schroffheit überspielt, und als er ins Bett gestiegen war, hatte er peinlich darauf geachtet, sie nicht zu berühren. Die Vorstellung, mit seiner eigenen Frau intim zu sein, erschien ihm plötzlich undenkbar, und er drehte ihr den Rücken zu, während er in Schlaf sank, das Kopfkissen umklammernd wie ein Ertrinkender ein Stück Treibholz.
Er war früh aufgewacht und hatte den Morgen damit verbracht, seine Kontaktleute bei der Presse anzurufen, doch weder sie noch die paar untergeordneten Beamten in den Ministerien, die er als zuverlässige Informationsquellen kannte, gaben zu, irgendetwas Konkretes zu wissen.
Gewiss, es gab Gerüchte – ein Mitarbeiter eines Unterstaatssekretärs im Innenministerium sagte sogar, ihm sei zu Ohren gekommen, dass die ehemalige jüdische Untergrundorganisation Hagana Ableger in London habe. Aber das waren beinahe unwirkliche Gestalten, Schattenwesen, so schwer auszumachen wie Wölfe, die in der Dämmerung am Waldrand umherstreiften.
Und er konnte sich auch nicht vorstellen, welchen Grund diese Leute gehabt haben sollten, David Rosenthal zu töten, falls er tatsächlich zu ihren Unterstützern gezählt hatte. Es sei denn … Es sei denn, Rosenthal hätte sich von ihren Idealen abgewandt und gedroht, ihre Tarnung auffliegen zu lassen.
Frustriert von all den Fragen, die immer nur in neue Fragen mündeten,
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