Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
geschnitzten Figuren eines Mannes und einer Frau, die zur vollen Stunde aus ihrem Häuschen gewackelt kamen. Gavin hasste es.
»Linda?«, rief er zögernd, doch seine eigene Stimme klang unnatürlich laut und hallte in seinen Ohren. Jetzt fiel ihm auf, dass die Wohnung nicht nur still war, sondern auch stockdunkel. Linda war sehr darauf bedacht, Strom zu sparen, aber normalerweise ließ sie wenigstens eine kleine Lampe brennen, auch wenn sie schon im Bett war und auf ihn wartete.
Er legte sein Zeitungsbündel auf dem Bord im Flur ab und ging langsam in Richtung Wohnzimmer. Als er merkte, dass er auf Zehenspitzen schlich, schalt er sich selbst. Es war schließlich seine Wohnung – wovor sollte er da Angst haben?
Doch als er das Wohnzimmer erreichte, fand er es ebenfalls dunkel, und als er das Licht einschaltete, dauerte es immer noch einen Moment, bis er begriff, was hier nicht stimmte.
Die Fotos der Kinder auf dem Beistelltisch waren verschwunden, ebenso wie Lindas Korb mit den Nähsachen und der Stapel Frauenzeitschriften in dem Ständer neben dem Sofa. Und es lagen auch keine Kinderschuhe oder verstreuten Schulbücher herum.
Aber die Uhr stand noch an ihrem Platz, und als sie die Stunde schlug, fuhr er erschrocken zusammen. Das kleine, bunt bemalte Pärchen kam zu seiner rituellen Parade hervor, und Gavin schien es, als ob die beiden sich über ihn lustig machten.
»Linda?«, rief er noch einmal. »Susie? Stuart?« Aber diesmal rechnete er nicht mehr mit einer Antwort.
Er fand den Zettel in der Küche, neben einem Teller mit einem Stück Käse und einem trockenen Brotkanten.
Sie schrieb, sie sei mit den Kindern zu ihrer Mutter gefahren. Ob nur zu einem Besuch oder für immer, sagte sie nicht, doch als er ins Schlafzimmer ging, stellte er fest, dass ihre Kleider nicht mehr im Schrank hingen und ihre Haarbürste von der Frisierkommode verschwunden war, mitsamt allen Kosmetikartikeln. Das Bett war ordentlich mit der Tagesdecke aus Frotteeplüsch bezogen, und der leise Duft von Lindas Parfüm hing noch in der Luft, wie ein Geist all der verpassten Chancen seiner Ehe.
Gavin ließ sich auf das Bett sinken. Die Federn quietschten unter seinem Gewicht, und er fragte sich, wie lange es her war, dass sie zuletzt hatten aufpassen müssen, um die Kinder nicht zu wecken. Er schloss die Augen, als ihn ein plötzliches Schwindelgefühl überkam. Hatte sie ihn tatsächlich verlassen?
Er schwankte zwischen Erleichterung und Panik, und dann brach er in lautes Gelächter aus. Er hörte den hysterischen Unterton, aber es war ihm gleich.
Seine Frau und seine Kinder waren weg, und seinen Job war er vielleicht auch bald los.Was hatte er noch zu verlieren?
»Mist, verdammter«, hörte Cullen seinen Chef murmeln. Dann fuhr Kincaid den Constable an: »Wer hat hier das Kommando?«
Der Polizist glotzte ihn verständnislos an.
»Ihr SIO, Mann. Der leitende Ermittlungsbeamte. Bringt man Ihnen denn heutzutage gar nichts mehr bei?«
»Sir, man hat mir nur gesagt, ich soll niemanden durch die Absperrung lassen.« Er wedelte mit der Hand in Richtung der Unfallermittler. »Ich glaube nicht, dass die Kripo benachrichtigt worden ist. Bei einem Unfall …«
»Es war kein Unfall. Und ich werde diesen Fall übernehmen. Jetzt sagen Sie den Kollegen, dass das hier ein Tatort ist. Ich leite inzwischen alles in die Wege.« Er zückte bereits sein Handy, während der Constable ihn anstarrte wie ein erschrockenes Kaninchen und dann wie der Blitz davonschoss, um die Unfallermittler zu informieren.
»Sind Sie sich sicher?«, fragte Cullen, bevor Kincaid die Nummer wählen konnte.
»Natürlich bin ich mir sicher, was denken Sie denn?« Kincaid fuhr zu ihm herum, und Cullen sah, dass er vor Wut kochte. Er konnte es dem Constable nicht verdenken, dass er sich schleunigst aus der Gefahrenzone gebracht hatte. »Irgendjemand ist uns genau einen Schritt voraus, und deswegen ist dieses arme Schwein – dieser Harry Pevensey – jetzt tot. Ich habe nicht die Absicht, es noch mal so weit kommen zu lassen, und dass hier nicht eher jemand auf die Idee gekommen ist, die Kripo hinzuzuziehen, wird noch Konsequenzen haben. Wir hätten die Leiche an Ort und Stelle in Augenschein nehmen müssen. Und der Rechtsmediziner auch. Und schaffen Sie mir den Uniformierten ran, der mit diesem Nachbarn gesprochen hat, der den Toten gefunden hat.«
Er hackte die Nummer in die Tasten, als wäre das Handy mit schuld an diesem Schlamassel.
Während Cullen mit
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