Wen die Erinnerung trügt - Crombie, D: Wen die Erinnerung trügt - Where Memories Lie
aber auch entschlossen, vielleicht bis hin zum Starrsinn – und dann musste sie über ihrer eigene amateurhafte graphologische Analyse lächeln.
Sie hatte gerade zu lesen begonnen, als ihr Handy ihr mit einem Piepsen meldete, dass sie eine SMS hatte. Da erst wurde ihr klar, dass sie kein Netz gehabt hatte, bis sie den Stuhl verrückt hatte. Ihr erster Gedanke war, dass sie irgendeine wichtige Nachricht über ihre Mutter verpasst hatte. Aber die SMS kam von Kincaid, der fragte, ob sie sich an einer Adresse in der Dean Street mit ihm treffen könne.
Kincaid lehnte am Laternenpfahl vor dem French House und blickte zu den leuchtend blauen Markisen über dem Eingang zur Bar auf. Die Fenster des Restaurants im ersten Stock waren
weit aufgerissen, um die frische Luft hereinzulassen, doch die darüber angebrachten französischen Flaggen flatterten lustlos in der warmen Brise.
Er hatte die Jacke ausgezogen und beobachtete mit Grausen, wie Scharen von Gästen aus der Tür des Lokals auf die Straße strömten.Wenn es draußen schon so warm war, würde es drinnen noch schlimmer sein, und seine Hoffnung, sie könnten sich einen kühlen Drink und etwas zu essen genehmigen, während sie das Personal befragten, würde wahrscheinlich durch logistische Schwierigkeiten zunichtegemacht werden.
Immerhin war er nicht wie Cullen auf dem Weg zurück in ein stickiges Büro im Yard, um Unterlagen von Telefongesellschaften anzufordern. Der Gedanke entlockte ihm ein Grinsen. Cullen wäre gerne bei dieser Befragung dabei gewesen und hatte auch sogleich Protest angemeldet.
Aber Cullen war gut in der Detailrecherche, wie Kincaid ihm zum wiederholten Mal bescheinigt hatte, und das Aufstöbern von Fakten war ein wichtiger Teil der Arbeit eines Sergeants.
Diese rebellische Haltung ließ allerdings schon ahnen, dass Cullen es einmal weit bringen würde, doch bis dahin hatte er noch eine Menge zu lernen, vor allem, was Geduld betraf, und auch – wie Kincaid fand – Einfühlungsvermögen bei Vernehmungen. Er neigte zu vorschnellen Urteilen, und es mangelte ihm an Gemmas Intuition und Offenheit. Sie wollte stets wissen, wie ihr Gegenüber tickte.
Andererseits war Kincaid klar, dass er wahrscheinlich immer – und vielleicht unfairerweise – die Leistung seiner Mitarbeiter an Gemma messen würde, und er sah jetzt, wie bereitwillig er die Gelegenheit ergriffen hatte, sie zu diesem Fall hinzuzuziehen. Vielleicht konnte er Cullen keinen Vorwurf machen, wenn er in dem Punkt etwas empfindlich war.
Er blickte die Dean Street hinunter, und als hätte er sie mit seinen Gedanken heraufbeschworen, sah er Gemma auf sich
zukommen. Ihr kupferfarbenes Haar schimmerte in der Sonne, und obwohl sie einen Rock trug, bewegte sie sich mit jenen langen, schwingenden Schritten, bei deren Anblick ihm jedes Mal das Herz aufging. Sie lächelte, als sie ihn entdeckte, und er fand es plötzlich ziemlich schwer, sich auf die Arbeit zu konzentrieren.
Als sie ihn erreichte, beugte er sich zu ihr herab und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Wange. Dann trat er einen Schritt zurück und musterte sie kritisch. »Du hast da einen Schmutzfleck auf der Stirn«, sagte er und wischte mit dem Daumen darüber. »Was hast du denn gemacht – eine Gruft ausgehoben?«
»Da liegst du gar nicht so weit daneben«, erwiderte Gemma. Sie schob seine Hand weg, fischte ein Taschentuch aus ihrer Handtasche und rieb an dem Fleck herum. »Ist er weg?«
»Schon viel besser. Also, was hast du denn nun gemacht?«
»Im Keller der Wache am Lucan Place Archivkisten durchwühlt. Ich erzähl’s dir später. Und was machen wir hier ? Ich könnte durchaus was Kleines essen.« Sie deutete auf das Lokal.
»Schön wär’s, dürfte aber etwas schwierig sein.« Er berichtete ihr, was sie mithilfe des Durchsuchungsbeschlusses von Harrowby’s erfahren hatten und wie sie anschließend entdeckt hatten, dass der Besitzer der Brosche letzte Nacht ermordet worden war. »Sein Nachbar – der arme Kerl, der die Leiche gefunden hat – konnte Dom Scott anhand des Fotos, das Cullen bei sich hatte, identifizieren. Er sagt, Dom habe das Opfer gestern besucht und die beiden hätten gestritten. Als wir Dom Scott danach fragten, sagte er, er habe Pevensey dazu bringen wollen, die Brosche aus der Auktion zu nehmen, weil Kristin deswegen Schwierigkeiten bekommen hätte, aber Pevensey habe sich geweigert.«
»Dominic Scott kannte also sowohl den Typen, der die Brosche zum Verkauf angeboten hat, als auch
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